Die Versorgung muss sicher sein
Gesamtstrategie
Die Energiemärkte befinden sich im sogenannten «Energie-Trilemma»: Das Zieldreieck Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit muss stets ins Gleichgewicht gebracht werden.
Mit der Einführung des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) wurde der Strommarkt 2007 teilweise geöffnet. Seither spielen Marktmechanismen bei der Produktion, beim Handel und beim Vertrieb von Strom (bei Kunden mit Bezug >100 MWh). Später rückte mit dem Schweizer Emissionshandelssystem (2008), dem CO2-Gesetz (2013), der Energiestrategie 2050 (2017) – und damit verbunden der Totalrevision des Energiegesetzes (2018) – der Umweltgedanke ins Zentrum. Der Ausbau der erneuerbaren Energien soll vorangetrieben, Effizienzmassnahmen sollen umgesetzt und der Neubau von Kernkraftwerken ausgeschlossen werden. Der Ausbau kommt jedoch nur schleichend voran, unter anderem wegen der fehlenden Wirtschaftlichkeit. Dies wirkt sich negativ auf die künftige Versorgungssicherheit der Schweiz aus. Die Rahmenbedingungen für diese Versorgungssicherheit müssen daher dringend verbessert werden.
Energiewirtschaft europaweit im Umbruch
Um die Ziele der Energiestrategie (ES 2050) sowie des Klimaabkommens von Paris zu erreichen, wird sich die Energieversorgung der Schweiz stark verändern müssen. Bereits heute weist die Schweiz im Strombereich im Winter ein strukturell bedingtes Produktionsdefizit aus. Dieses Defizit wird sich aufgrund des schrittweisen Verzichts auf die Kernenergie sowie der zunehmenden Elektrifizierung – die im Rahmen der Dekarbonisierung eine zentrale Rolle spielt (wie Wärmepumpen und Elektromobilität) – weiter akzentuieren. Vor diesem Hintergrund muss die Schweiz ihre Versorgung künftig verstärkt auf Importe abstützen. Die Herausforderung wird dadurch ungleich grösser, hängt die Versorgungssicherheit so doch letztlich von der Exportbereitschaft und vom Exportvermögen der angrenzenden Staaten ab.
Auch bei unseren Nachbarn wird die Energielandschaft grosse Veränderungen erfahren: In ganz Europa sollen der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Elektrifizierung fortschreiten. Gleichzeitig ist im europäischen Umfeld innerhalb von wenigen Jahren ein massiver Abbau an gesicherten Kohle- und Kernkraftkapazitäten geplant (insgesamt über 124 GW), der sich negativ auf die Importmöglichkeiten der Schweiz in kritischen Wettersituationen auswirken wird (zum Beispiel während Dunkelflauten).
Drei neue Massnahmen für mehr Versorgungssicherheit
Seit der Liberalisierung gilt ein System von Teilverantwortlichkeiten: Die Energieversorgung ist Sache der Energiewirtschaft. Damit sie diese Aufgabe im Gesamtinteresse optimal erfüllen kann, müssen Bund und Kantone die dazu erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen. Die Beobachtung und Überwachung der langfristigen Versorgungssicherheit ist derweil Aufgabe der ElCom. Im Fall einer Gefährdung liegt die Pflicht zur Beantragung von Massnahmen bei der Regulierungsbehörde. Die Umsetzung der Massnahmen schliesslich obliegt dem Bundesrat. Auch das Anstossen des Gesetzgebungsprozesses zur Anpassung der Rahmenbedingungen ist Sache der Exekutive.
Mit der Überarbeitung des Energie- und des Stromversorgungsgesetzes sieht der Bund nun auch drei Massnahmen zur Stärkung der Versorgungssicherheit vor: Erstens will er den Ausbau der heimischen erneuerbaren Energien mit Ziel- und verbindlichen Richtwerten sowie der Fortführung der Fördermassnahmen vorantreiben. Zweitens soll zur kurzfristigen Sicherstellung der Versorgungssicherheit eine Energiereserve eingerichtet werden. Drittens plant der Bund – sollte sich eine Gefährdung im Winterhalbjahr abzeichnen – zur langfristigen Gewährleistung der Versorgungssicherheit eine Ausschreibung, die den verstärkten Zubau von inländischen erneuerbaren Stromproduktionskapazitäten zum Ziel hat.
Die verbindlichen Richt- und Zielwerte für den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen noch überarbeitet werden, da die laufenden Arbeiten an den Energieperspektiven auf einen deutlich höheren Strombedarf im Jahr 2050 hindeuten als ihn die Berechnungen aus dem Jahr 2013 voraussagen. Folglich sollte auch das Produktionsziel im Energiegesetz in der Grössenordnung um 50% höher ausfallen.[1] Zudem sind Kriterien und Richtwerte für die Versorgungssicherheit noch zu definieren.

Angemessene heimische Produktion ist zentral
Wesentliches Element einer hohen Versorgungssicherheit beim Strom ist die Sicherstellung einer angemessenen heimischen Produktion zu allen Jahreszeiten. Ein mit der heutigen Situation vergleichbarer Grad an Eigenproduktion (Gross- und Kleinanlagen) dient als Absicherung gegen das zukünftige Risiko unzureichender Importmöglichkeiten. Der VSE empfiehlt, die Ziele der Versorgungssicherheit so zu stecken, dass die Schweiz zu jedem Zeitpunkt im Jahr mindestens eine Selbstversorgungsfähigkeit von 14 Tagen aufweist. Besondere Aufmerksamkeit verdient bis auf Weiteres das Ende des Winters, wenn die Füllstände der Speicherseen systembedingt tief sind. Auch sollte sichergestellt werden, dass im Winterhalbjahr der Anteil an Eigenversorgung (der Anteil der inländischen Nettoerzeugung am Landesverbrauch) während fünf aufeinanderfolgender Jahre durchschnittlich nicht unter 80% fällt.[2]
Die ElCom fordert, dass «ein substanzieller Teil der wegfallenden Winterproduktion der Kernkraftwerke weiterhin im Inland produziert wird».[3] Die Eigenproduktion sollte gemäss ElCom «so dimensioniert werden, dass der Winter-Import unterhalb der 10-TWh-Schwelle gehalten werden kann».[4] Dies entspricht in etwa dem vom VSE vorgeschlagenen, durchschnittlichen Eigenversorgungsanteil von 80 %. Dazu hält die ElCom «geeignete Massnahmen für den Zubau von 5 bis 10 TWh inländischer Winterproduktion für unerlässlich».[5]
Der Markt allein reicht nicht
Der Markt allein führt unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht zum gewünschten und nötigen Ausbau der erneuerbaren Energien.[6] Anreize für Investitionen in den Schweizer Kraftwerksbestand und den Ausbau der erneuerbaren Energien bleiben aus, da die Preissignale des Energy-Only-Marktes unter den Gestehungskosten der Anlagen für erneuerbare Energien liegen – und nur für einen vergleichsweise kurzen Zeithorizont gelten.[7] Zusätzliche marktbasierte Instrumente, die zweckdienliche Investitionsanreize schaffen könnten, fehlen.
Aus dem Markt resultiert zwar ein gewisses Mass an langfristiger Versorgungssicherheit. Doch dieses Marktergebnis entspricht nicht zwingend den langfristigen gesellschaftlichen und politischen Anforderungen. Mit der vollständigen Strommarktöffnung werden Wettbewerb und Preisdruck zudem weiter zunehmen. Es braucht daher Rahmenbedingungen, die zusätzliche Anreize bieten für den Bestandserhalt und die Errichtung von Neuanlagen im Inland – unter Einhaltung der Ziele der Energiestrategie 2050 und der Klimapolitik.
Mit dem Klima- und Energie-Lenkungssystem (Kels) hätte der Übergang vom Förder- zum Lenkungssystem stattfinden [8] und die Umsetzung der Energiestrategie 2050 vorangetrieben werden sollen. Das auch vom VSE favorisierte Kels hatte 2017 politisch jedoch keine Chance. Aus realpolitischen Gründen erachtet der VSE die Weiterführung von Fördermassnahmen als pragmatischen Weg und begrüsst, dass der Bundesrat diesen beschreiten will.
Der Bund schlägt neu Instrumente mit unterschiedlichen Zielen bis 2035 vor: Investitionsbeiträge zur Förderung von Wasserkraft, Wind, Biomasse und Geothermie, Einmalvergütung zur Förderung von kleinen sowie Ausschreibungen für grosse Photovoltaik-Anlagen.
Die zu ergreifenden Massnahmen sollen das Risiko bei Investitionen in erneuerbare Energien verringern und entsprechende Anreize setzen. Die Ausrichtung des Zielpfades für alle Technologien auf den Horizont 2035 ist sachlogisch und richtig. Es ist grundsätzlich sinnvoll, auch das Förderdispositiv auf diesen Zeithorizont gesetzlich zu verankern – und durch die Festlegung von Ausbauzielen bis 2050 eine längerfristige Perspektive aufzuzeigen.

Ausschreibungen als wettbewerbliches Instrument der Wahl
Die Einführung von Ausschreibungen als wettbewerbliches Instrument ist zu begrüssen. Erfahrungen aus dem Ausland belegen deren Nutzen bei der Ermittlung der Förderbeiträge. Mittels Ausschreibungen können die Förderbeiträge pro KWh reduziert und mit den begrenzten Fördermitteln mehr erneuerbare Energien ausgebaut werden. Darüber hinaus haben Ausschreibungen den Vorteil, dass sie einfacher zu handhaben sind als administrierte Förderbeiträge, deren Höhe anhand der individuellen Kosten- und Ertragssituation berechnet wird. Das Instrument der Ausschreibung sollte daher nicht im Voraus auf grosse PV-Anlagen beschränkt werden. Ausschreibungen sollten auch bei der Wasserkraft und grösseren Anlagen weiterer Technologien – wie Windenergie oder Biomasse – Anwendung finden. Für die Schweiz ist die Winterversorgung, und damit die Produktion der erneuerbaren Energien im Winterhalbjahr, die grösste Herausforderung. Ausschreibungen sollen deshalb auf den Beitrag zur Winterproduktion und die Regelbarkeit der Anlagen fokussieren.
Für kleine Anlagen ist an der Einmalvergütung festzuhalten. Sie stellt für kleine Produzenten ein etabliertes, eingespieltes und in der administrativen Abwicklung effizientes System dar. Die Einmalvergütung sollte so ausgestaltet werden, dass die Dachflächen bei Photovoltaik maximal ausgenutzt werden. Auch hier sollten vermehrt Anreize zur Winterproduktion gesetzt werden. Ebenfalls muss die Möglichkeit bestehen, zur Teilnahme am Ausschreibungsverfahren mehrere kleine Anlagen (Anlagegruppen) zusammen vermarkten zu können.
Gleichzeitig ist bei der Abnahme- und Vergütungspflicht eine Systemänderung erforderlich. Der Bundesrat will die Umsetzung der vollständigen Strommarktöffnung weiter vorantreiben. In einem geöffneten Strommarkt kann im Sinn der Entflechtung die Abnahme von Strom aber nicht Aufgabe des Verteilnetzbetreibers sein.[9] Sie hat künftig nicht mehr durch jeden einzelnen VNB zu erfolgen, sondern ist durch eine unabhängige, zentrale Stelle sicherzustellen. Dabei ist eine schweizweit einheitliche Vergütung anzustreben, die sich – wie vom Bundesrat vorgesehen – nach dem Marktpreis zum Zeitpunkt der Einspeisung richtet.
Bestandserneuerungen der Wasserkraft sicherstellen
Die Wasserkraft bildet heute wie auch künftig das Rückgrat der Schweizer Stromversorgung und liefert den weitaus grössten Anteil an erneuerbarer Stromproduktion. Ihr Zubaupotenzial ist indes weitgehend ausgeschöpft. Aufgrund ihrer Systemrelevanz gilt bei der Wasserkraft umso mehr, dass nebst dem Zubau vor allem der langfristige Erhalt der bestehenden Produktion angestrebt werden muss.
Bei ungenügender Rentabilität und fehlenden Mitteln werden an grossen Wasserkraftanlagen keine echten Erneuerungen vorgenommen, da bei länger währenden tiefen Preisen die Erneuerungsinvestitionen nicht amortisiert werden können. Dies geht zulasten der Zuverlässigkeit der Anlagen – und letztlich der Versorgungssicherheit. Insbesondere die unverändert hohe und starre Abgabenbelastung (Wasserzinsen) bremst die Erneuerungsinvestitionen, da sie die Wirtschaftlichkeit der Wasserkraft je nach Marktsituation stark beeinträchtigt und die Wasserkraft gegenüber Importstrom benachteiligt.
Es braucht zusätzliche Massnahmen, um Erneuerungen sicherzustellen. In den nächsten drei Jahrzehnten steht für das Gros der bestehenden Wasserkraftwerke die Konzessionserneuerung an. Können reguläre Neukonzessionierungen und sinnvolle – von den Kantonen und Gemeinden gewollte – vorzeitige Neukonzessionierungen erfolgen, dient dies nicht nur der Stromversorgung, sondern auch der Umwelt. Denn Vorgaben des Gewässerschutzes können so zügiger umgesetzt werden.

Weitere Elemente sind für die Versorgungssicherheit nötig
Die Wirtschaftlichkeit respektive die finanzielle Förderung der heimischen erneuerbaren Energien allein reicht jedoch nicht. Für eine hohe Versorgungssicherheit müssen verschiedenste Elemente zusammenspielen. Insbesondere müssen Ausbauprojekte auch tatsächlich umgesetzt werden können. Verschiedene Hürden halten den Ausbau der erneuerbaren Energien auf. Namentlich bei der Windenergie führen die mehrstufigen Verfahren (Raumplanung und eigentliches Bewilligungsverfahren) zu Verzögerungen. Vielfach zeigt sich fehlende Akzeptanz bei Betroffenen oder einzelnen Interessengruppen. Für eine stärkere Investitionstätigkeit in der Schweiz ist ein zeitlich absehbares und inhaltlich verlässliches Vorgehen bei der Güterabwägung zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen nötig. Ohne entsprechende Lösungsansätze und Verfahrensstandards werden die gesteckten Ziele schwerlich zu erreichen sein.
Des Weiteren braucht es Massnahmen zur Sicherstellung der Netzsicherheit sowie zur Aufrechterhaltung des systemrelevanten Austauschs mit den Nachbarländern, zum Einbezug der Endverbraucher ins Energiesystem und zur Ermöglichung von sektorenübergreifenden Lösungsansätzen – auf die aber bei anderer Gelegenheit eingegangen wird.
Nur dann Notmassnahmen, wenn andere Optionen ausgeschöpft sind
Zeichnet sich ab, dass die Versorgungssicherheit trotz all dieser Massnahmen nicht gewährleistet ist, kommen die Notlösungen gemäss Art. 9 StromVG zum Tragen. Die Notmassnahmen sollen erst dann zum Zug kommen, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft wurden. Wichtig ist daher, dass sich die Zielsetzungen der Instrumente im Energie- und im Stromversorgungsgesetz sinnvoll ergänzen. Überschneidungen und Wechselwirkungen sind zu vermeiden. Während die Fördermassnahmen im Energiegesetz auf das Erreichen der gesteckten Ziele zum langfristigen Bestandserhalt und Zubau ausgerichtet werden müssen, ist die Massnahme im StromVG als Sicherheitsnetz für die Versorgungssicherheit zu konzipieren. Der ohnehin notwendige Kapazitätszubau an erneuerbaren Energien ist entsprechend durch das Energiegesetz zu steuern – und soll nicht auf andere Finanzierungskanäle verschoben werden.
Zieldreieck jetzt dringend ins Lot bringen
Das Zieldreieck Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit ist fragil und durch starke gegenseitige Abhängigkeiten geprägt. Der heutige Zustand zeichnet sich durch ein Ungleichgewicht zulasten der Versorgungssicherheit aus. Das Zieldreieck muss dringend ins Lot gebracht werden, damit die Schweiz gewappnet ist für den Erhalt und Ausbau von erneuerbaren Energien. Erst damit ist auch die Dekarbonisierung der Sektoren Dienstleistungen, Haushalt, Industrie und Verkehr denkbar. Vom Bund braucht es daher eine Gesamtstrategie mit Blick auf alle Sektoren und Energieträger. Diese Strategie muss ermöglichen, dass der Ausbau der Erneuerbaren umgesetzt wird, auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung stösst und auch die weiteren Massnahmen zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit zeitnah angegangen werden.
Referenzen
[1] Erläuternder Bericht zur Vernehmlassungsvorlage EnG; Seite 12.
[2] Diese VSE-Zielwerte sind keine exakt hergeleiteten energiewirtschaftlichen Grössen, sondern vielmehr vom VSE präferierte und aus der Vergangenheit abgeleitete Zielwerte, um sich gegen das Risiko abnehmender Exportfähigkeit der umliegenden Länder abzusichern.
[3] «Stromversorgungssicherheit der Schweiz 2018», Bericht der ElCom, 2018, S. 60.
[4] «Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer angemessenen Winterproduktion», Grundlagenpapier der ElCom, 2020, S. 9.
[5] Medienmitteilung der ElCom vom 4. Juni 2020.
[6] NFP Synthese zum Themenschwerpunkt Marktbedingung und Regulierung, 2019.
[7] VSE Stellungnahme zur Revision StromVG, 2019, VSE Stellungnahme zu Eckpfeiler eines Strommarktdesign, 2018.
[8] www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20150072.
[9] Stellungnahme des VSE zur Revision des Stromversorgungsgesetzes vom 23. Januar 2019.
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