Die Topologie von Verteilnetzen erkennen
Messdaten als Basis
Verteilnetzbetreiber verfügen oft nicht über genaue digitale Netzmodelle ihrer Netzinfrastruktur, unter anderem weil veränderte Schalterstellungen in Verteilschränken nicht digital nachgepflegt werden. Um Netzmodelle zu aktualisieren, bietet sich die messdatenbasierte Erkennung der Netztopologie an. Bei fehlenden GIS-Daten können hiermit auch neue Netzmodelle erstellt werden.
Angetrieben durch die europäischen Klimaziele werden zunehmend dezentrale Erzeugungsanlagen und neuartige Verbraucher in die unteren Spannungsebenen integriert. Um möglichen Grenzwertüberschreitungen der Netzbetriebsmittel entgegenzuwirken, müssen Verteilnetzbetreiber auf einen aktiveren Netzbetrieb umstellen, der die Steuerung und Regelung von neuen dezentralen Anlagen wie Wärmepumpen, Klimaanlagen, Ladeinfrastruktur für Elektroautos und Hausbatterien, aber auch von den noch zahlreich vorhandenen Warmwasserboilern beinhaltet. Deshalb hat unter anderem die EU-Richtlinie 2006/32/EG den Einsatz von intelligenter Messtechnik vorgeschrieben. Nationale Richtlinien, so auch in Deutschland (EnWG, §14a) und in der Schweiz (StromVV, §19a Absatz 1), lehnen sich daran an.
Mit Messdaten und digitalen Netzmodellen können Netzzustandsanalysen für den aktiven Netzbetrieb durchgeführt werden. Allerdings verfügen Verteilnetzbetreiber oft nicht über hinreichend genaue digitale Netzmodelle der Netzinfrastruktur, da veränderte Schalterstellungen in Kabelverteilschränken manchmal nicht digital nachgepflegt werden oder Unsicherheiten durch den nachträglichen Digitalisierungsprozess und die Umwandlung von GIS-Daten in rechenfähige Netzmodelle entstehen, beispielsweise bei fehlender Hinterlegung von Kabeltypen und -parametern.
Die messdatenbasierte Erkennung der Netztopologie rückt daher zunehmend in den Forschungsfokus, da sie einen hohen Mehrwert im Netzbetrieb stiften kann – von der kontinuierlichen Validierung der Korrektheit bestehender Netzmodelle, z. B. betreffend Schalterstellungen und Netztopologien bei einer gut gepflegten GIS-Datenbank, bis hin zur Erstellung von komplett neuen Netzmodellen bei fehlenden GIS-Daten.
Vor diesem Hintergrund entwickelt auch das Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft (IAEW) der RWTH Aachen Algorithmen zur Erkennung von Niederspannungsnetztopologien basierend auf den zunehmend verfügbaren Netzmessdaten. Im Fokus stehen dabei die Praxistauglichkeit der Algorithmen und deren Robustheit gegenüber äusseren Einflüssen, z. B. den Messunsicherheiten von realer Messtechnik. Diese Studie untersucht den Einfluss von Messunsicherheiten auf die Qualität einer bestehenden Methode zur Topologieerkennung. Die verwendete Methode basiert auf Korrelationsanalysen von synthetisch erzeugten Spannungsmesszeitreihen, bei denen die gesamte Topologie des Niederspannungsnetzes ohne vorherige Kenntnis der Knotenverbindungen im Netz bestimmt wird. Um Aussagen über die Robustheit des Verfahrens im Allgemeinen und gegenüber Messunsicherheiten treffen zu können, wird es an einer aussagekräftigen Anzahl von synthetischen Niederspannungsnetzen mit unterschiedlichen Netzstrukturen getestet. Dabei wird einerseits auf synthetisch generierte Daten zurückgegriffen, um eine vollständige und fehlerfreie Ausgangsdatenbasis zu haben, und andererseits, um Messunsicherheiten unterschiedlicher Grössenordnungen zu berücksichtigen.
Methodik und Datenbasis
In der Literatur werden unterschiedliche Ansätze zur Topologieerkennung vorgestellt. Dabei wird insbesondere zwischen Verfahren zur Topologieerkennung unterschieden, welche die gesamte Topologie ohne Vorkenntnisse bestimmen, und Verfahren, die lediglich Schalterstellungen rekonstruieren [1–3]. Da jedoch neben unbekannten Schalterstellungen auch Teile der digitalisierten Netztopologie fehlerhaft vorliegen können, fokussiert sich diese Studie auf die vollständige Bestimmung der Netztopologie ohne Vorkenntnisse. Hierbei wird ein Ansatz gewählt, welcher auf Basis der Korrelationsanalyse von Spannungszeitreihen die Netztopologie rekonstruiert [3]. Die Grundidee der Methode basiert auf dem Effekt, dass der Spannungsverlauf entlang jeder Leitung aufgrund der spezifischen Kombination aus Lasten und Erzeugern für die jeweilige Leitung individuell ist. Somit kann die Spannung als starker Indikator für elektrische Verbindungen verwendet und aus der Ähnlichkeit von Spannungszeitreihen Rückschlüsse auf die elektrische Verbindung von Netzknoten gezogen werden.
Bild 1 veranschaulicht diesen Effekt anhand dreier exemplarischer Spannungsverläufe eines Niederspannungsnetzes, wobei Netzknoten 1 und 2 im selben Strang liegen und somit direkt elektrisch miteinander verbunden sind, während Netzknoten 3 in einem anderen Strang liegt. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Spannungsverläufe der elektrisch miteinander verbundenen Netzknoten 1 und 2 sehr ähnlich sind, während Netzknoten 3 einem anderen zeitlichen Verlauf folgt. Bei Betrachtung der Korrelationen zeigt sich daher eine positive Korrelation zwischen den Spannungszeitreihen der direkt miteinander verbundenen Netzknoten (1 und 2), während die nicht verbundenen Netzknoten (1 und 3) keine Korrelation zueinander aufweisen. Das Beispiel zeigt, wie sich anhand der Korrelationsanalyse von Spannungszeitreihen Rückschlüsse auf elektrische Verbindungen ziehen lassen.
Um zumindest in der Entwicklungs- und Erprobungsphase für Topologieerkennungsverfahren unter idealen Bedingungen arbeiten zu können, wird eine idealisierte, synthetische Informations- und Datengrundlage geschaffen, die aus störungsfreien, lückenlosen Messdatenreihen und fehlerfreien Netzmodellen besteht. Damit kann sozusagen unter Laborbedingungen die Güte von Topologieerkennungsverfahren getestet und validiert werden. Das darauf basierende Verfahren ist in Bild 3 dargestellt.
Die synthetischen Messwerte werden mit synthetischen, georeferenzierten Niederspannungsnetzmodellen generiert, die aus öffentlich verfügbaren Daten, beispielsweise von OpenStreetMaps (OSM), erstellt wurden. Dabei wurden die resultierenden Strukturparameter mit den veröffentlichten Strukturdaten der Verteilnetzbetreiber in Deutschland verglichen. Damit entsprechen die hier verwendeten Netzmodelle realen Netzstrukturen mit unterschiedlichen Graden der Urbanisierung [4]. Anschliessend werden die Netzmodelle mit probabilistischen Last- und Erzeugungsprofilen für Haushalte, Ladestationen, Wärmepumpen und PV-Anlagen mit 15-minütiger Auflösung ausgestattet [5]. Daraus ergeben sich individuelle Last- und Erzeugungszeitreihen für alle Netzknoten. Zur Generierung von synthetischen Messzeitreihen wird eine Jahreslastflussrechnung durchgeführt, damit die Spannungsdaten für jeden Netzknoten zu jedem Zeitschritt eines Jahres in hinreichender Qualität vorliegen. Um den Einfluss realer Messtechnik abzubilden, werden den Zeitreihen gaussverteilte Zufallszahlen entsprechend der zu untersuchenden Genauigkeitsklasse hinzugefügt.
Basierend auf den generierten Spannungszeitreihen wird die Netztopologie bestimmt. Da der Spannungsverlauf entlang jeder Leitung aufgrund der spezifischen Kombination aus Lasten und Erzeugern für die jeweilige Leitung individuell ist, können aus der Ähnlichkeit der Spannungszeitreihen Rückschlüsse auf die Verbindung der Netzknoten gezogen werden. Um die Ähnlichkeit der Spannungsverläufe der Netzknoten x und y über alle Zeitschritte i = 1, ..., N zu quantifizieren, wird die Pearson-Korrelation nach der untenstehenden Formel verwendet.
Daraus ergibt sich eine Korrelationsmatrix, welche die Ähnlichkeit der Spannungsverläufe aller möglichen Netzknotenpaare widerspiegelt. Andere Korrelationsmethoden sind ebenfalls möglich und zeigen eine vergleichbare Performance.
Basierend auf der Korrelationsmatrix wird mittels des Maximum-Spanning-Tree-Algorithmus nach Kruskal ein Graph erstellt, der die rekonstruierte Netztopologie widerspiegelt. Anschliessend wird für jede rekonstruierte Netztopologie eine Fehlerrate durch Abgleich mit dem Ausgangsnetzmodell bestimmt, welche dem Prozentsatz der fehlerhaft bestimmten Verbindungen entspricht.
Ausgewählte Simulationsergebnisse
Im Rahmen der Studie wird die Netztopologie für 1000 unterschiedliche, synthetische Niederspannungsmodelle rekonstruiert und sowohl der Einfluss der Anzahl an Betrachtungsschritten als auch der Einfluss von Messunsicherheiten auf die Qualität der Topologieerkennung untersucht. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse vorgestellt.
Zunächst stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Anzahl an Betrachtungszeitschritten auf die Qualität der Topologieerkennung hat, da in der Praxis Messdaten aus begrenzten Zeiträumen vorliegen können, teilweise mit fehlenden Messzeitschritten. Um den Einfluss zu quantifizieren, zeigt Bild 4 die Fehlerrate der Topologieerkennung in Abhängigkeit der Anzahl an Betrachtungszeitschritten bei einer viertelstündlichen Auflösung. Es ist erwartungsgemäss zu erkennen, dass die Fehlerraten mit zunehmender Anzahl von Beobachtungszeitschritten abnehmen. Oberhalb von 100 Betrachtungszeitschritten, dies entspricht bei einer zeitlichen Auflösung von 15 Minuten etwa einem Tag, gibt es keine signifikante Verbesserung der Fehlerraten.
Bei genauerer Analyse der rekonstruierten Netztopologien ist auffällig, dass die meisten fehlerhaften Verbindungen zwischen Netzknoten in der Nähe des Transformators auftreten. Dies liegt an der hohen Ähnlichkeit der Spannungszeitreihen dieser Knoten, wodurch sich die Korrelationsfaktoren nicht signifikant unterscheiden. Zudem wird beobachtet, dass die Netzknoten in fast allen Fällen den richtigen Strängen zugeordnet werden und die teilweise hohen Fehlerraten überwiegend durch Vertauschungen der Netzknoten innerhalb der Stränge verursacht werden. Vor diesem Hintergrund ist die gezeigte Methodik geeignet, um Schalterstellungen in Kabelverteilschränken zu bestimmen oder bestehende Netzmodelle zu validieren.
Da reale Messwerte jederzeit Messunsicherheiten unterliegen, wird deren Einfluss auf die Qualität der Topologieerkennung im Folgenden untersucht. Bild 5 zeigt die Fehlerrate in Abhängigkeit der jeweiligen Genauigkeitsklasse. Der Abbildung kann erwartungsgemäss entnommen werden, dass die Fehlerraten mit höheren Messfehlern zunehmen. Die internationalen Normen IEC 62053 11 und IEC 62053 22 definieren Messunsicherheiten von 2% bis 0,2%. Heutzutage neu installierte Smart Meter haben typischerweise eine Messgenauigkeit von 1–2%.
Für diese Genauigkeitsklassen liegen die mittleren Fehlerraten jeweils über 80%. Dies liegt insbesondere daran, dass die Abweichung von addierten Messunsicherheiten grösser ist als die Spannungsdifferenz zwischen benachbarten Netzknoten. Die Spannungsprofile benachbarter Knoten verlieren deshalb ihre Ähnlichkeit, was sich negativ auf die Qualität der Topologieerkennung auswirkt. Trotzdem weisen die rekonstruierten Netzmodelle weiterhin eine hohe Stranggenauigkeit auf – die Netzknoten werden also grundsätzlich den richtigen Strängen zugeordnet. Somit können zumindest Schaltzustände für bestehende Netzmodelle meist gut validiert werden.
Fazit und Ausblick
Die Simulationsergebnisse zeigen, dass durch eine Analyse von Spannungszeitreihen Rückschlüsse auf die Netztopologie gezogen werden können. Eine Topologieerkennung basierend auf Spannungsmesswerten ist somit in der Niederspannungsebene ohne Vorkenntnisse der netzinternen Verbindungen möglich.
Eine detaillierte Analyse der Anzahl an Messzeitschritten zeigt, dass die Qualität der Topologieerkennung bei einer Verlängerung des Betrachtungszeitraums deutlich erhöht wird. Zudem hängt die Qualität stark von der Güte der Messtechnik ab. Bei langen Messzeitreihen oder genauer Messtechnik ist die vorgestellte Methode für die Erkennung von Schaltzuständen oder der Validierung bestehender Netzmodelle geeignet. Dies liegt insbesondere an der hohen Stranggenauigkeit der rekonstruierten Netzmodelle.
Diese Studie beschränkte sich auf einphasige Modelle. Da Stromnetze in der Regel dreiphasig ausgelegt sind, ist eine Erweiterung des Algorithmus auf dreiphasige Systeme geplant. Durch die in der Realität leicht asymmetrische Auslastung der drei Phasen in der Niederspannung resultieren leicht unterschiedliche Knotenspannungen pro Phase. Die erhöhte Informationsdichte an jedem Netzknoten dürfte die Rekonstruktionsqualität der Netztopologie verbessern.
Referenzen
[1] D. Deka, V. Kekatos, G. Cavraro, «Learning Distribution Grid Topologies: A Tutorial», IEEE Transactions on Smart Grid, vol. 15, no. 1, S. 999–1013, Jan. 2024. doi: 10.1109/TSG.2023.3271902
[2] C. Debontride et al., «Low-voltage network topology identification for better flexibility planning – Portugal experiment», CIRED 2020 Berlin Workshop (CIRED 2020), S. 194–197, 2020.
[3] F. Tischbein et al., «Influence of Measurement Uncertainties on the Quality of Grid Topology Determination», IEEE Power & Energy Society General Meeting 2024 (IEEE PES GM), 2024.
[4] M. Trageser, M. Pape, K. Frings et al., «Automated routing of feeders in electrical distribution grids», Electric Power Systems Research, Vol. 211, Okt. 2022.
[5] C. Vertgewall et al., «Modeling an Application of Probabilistic Electrical Household Loads in Distribution Grid Simulations», International Conference on Smart Energy Systems and Technologies (SEST), 2022.
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