Die neuen Rollen des Stromnetzes
Synergien nutzen
Das Stromnetz wird bei der Dekarbonisierung eine zentrale Rolle spielen. Es soll nicht nur verstärkt, sondern auch für neue Aufgaben fit gemacht werden. Verschiedene Synergien sollen dabei genutzt werden.
Das Stromnetz ist die wichtigste Infrastruktur, um Klimaneutralität zu erreichen. Nur über das Netz kann der Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu den Endverbrauchern gelangen. Dabei geht es nicht nur darum, den heutigen Strombedarf zu decken, sondern auch darum, im Rahmen der Dekarbonisierung den Grossteil der heute genutzten fossilen Energieträger zu ersetzen.
Strom wird schrittweise zum wichtigsten Energieträger werden. Dies ist umso attraktiver, weil der Ersatz fossiler Energieträger durch erneuerbar erzeugten Strom oft erhebliche Effizienzsteigerungen ermöglicht.

Stets genügend Strom erzeugen
In den nächsten Jahrzehnten wird der jährliche Stromverbrauch in der Schweiz deshalb stark ansteigen, vor allem in den Bereichen Mobilität, Gebäude und Industrie [1]. Um beispielsweise die rund 55 TWh Energie zu ersetzen, die heute im Mobilitätsbereich in Form von Diesel und Benzin verbraucht werden, könnte der jährliche Stromverbrauch durch die Elektrifizierung der Fahrzeuge von heute 0,4 TWh auf rund 17 TWh im Jahr 2050 ansteigen. Da Elektromotoren viel effizienter sind als ihre thermischen Vorgänger, bedeutet dies eine Reduktion des Energieverbrauchs um fast 70%.
Zweitens wird die Sanierung von Gebäuden, die mit fossilen Brennstoffen beheizt werden, grösstenteils durch den Ersatz alter Heizkessel mit Wärmepumpen erfolgen. Auch hier kann der gesamte Heizenergieverbrauch um den Faktor drei bis vier reduziert werden. Wenn die Anstrengungen zur Verbesserung der Wärmedämmung und zur Nutzung anderer erneuerbarer Energiequellen wie Holz fortgesetzt werden, könnte der zusätzliche Strombedarf für diesen Übergang bei etwa 6 TWh/Jahr liegen, die hauptsächlich im Winter verbraucht werden. In dieser Zahl sind auch die Einsparungen enthalten, die durch den schrittweisen Ersatz von elektrischen Direktheizungen erzielt werden.
Schliesslich muss auch der Strom berücksichtigt werden, der für die Dekarbonisierung der Industrie benötigt wird. Hier geht es um den Ersatz von rund 17 TWh Energie aus fossilen Brennstoffen. Dieser Bereich ist schwieriger, da zwei Drittel dieser Energie in Prozessen verbraucht werden, die ein Temperaturniveau von weit über 100°C benötigen und damit ausserhalb der Reichweite von Wärmepumpen liegen. Die Substitution von Gas und Öl durch Strom wird daher nicht automatisch zu einer Effizienzsteigerung führen. Zudem ist für die Dekarbonisierung von Hochtemperaturprozessen der Einsatz von erneuerbarem Gas oft unumgänglich. Da das Biogaspotenzial bei Weitem nicht ausreicht, muss das erneuerbare Gas aus den Überschüssen der sommerlichen Stromerzeugung gewonnen werden.
In der Gesamtbetrachtung ist auch das saisonale Gleichgewicht zu berücksichtigen. So wird die Schweiz nach der altersbedingten Abschaltung des letzten Kernkraftwerks jährlich 76 TWh Solarstrom benötigen, was etwa dem 13-fachen der heutigen Solarstromproduktion entspricht [1]. Zudem müssen gemäss Volksentscheid vom Juni 2024 die Stauseen rasch erhöht werden, um zusätzlich 2 TWh Winterspeicher zu erhalten. Schliesslich muss jährlich 6 TWh Strom aus Windenergie produziert werden, die im Winter dominiert. Hier liegt die Schweiz übrigens weit zurück: Die jährliche Schweizer Windenergieproduktion liegt heute bei nur rund 0,17 TWh, in Österreich dagegen bei 9 TWh.
Weniger Kupfer und mehr Speicher
Angesichts dieser Zahlen liegt es auf der Hand, dass das Stromnetz bei dieser Transformation eine entscheidende Rolle spielen wird. In seiner heutigen Form sind seine Funktionen jedoch begrenzt: Da es nicht in der Lage ist, Strom zu speichern, wird es traditionell so dimensioniert, dass es die grösste zu übertragende Leistungsspitze, einschliesslich einer Sicherheitsmarge, bewältigen kann.
Der herkömmliche Ansatz zur Erfüllung der künftigen Anforderungen bestünde darin, das Netz nach der Logik «more of the same» zu verstärken. Eine Erweiterung der Netzfunktionen wäre jedoch wesentlich vielversprechender, wenn man bedenkt, dass ein immer grösserer Teil des Stroms in der Nähe des Ortes erzeugt wird, an dem er verbraucht wird. Wenn das Netz mit Komponenten ausgestattet wird, die eine Speicherung des Stroms in der Nähe der Erzeugungsanlagen ermöglichen, sinkt der Übertragungsbedarf – und damit das Ausmass des Netzausbaus. Es besteht also ein «Trade-off» zwischen Kupfer und Speicher.
Konkret kann das Netz für die kurzfristige Speicherung mit dezentralen Batterien ausgestattet werden, die den Strom vorübergehend speichern und einige Stunden oder Tage später wieder abgeben können. Das Netz kann auch mit Elektrolyseuren ausgerüstet werden, mit denen überschüssiger Strom in Wasserstoff umgewandelt werden kann. Dieses erneuerbare Gas kann dann entweder unverändert in der Industrie verwendet oder in Methan umgewandelt und in das Erdgasnetz eingespeist werden. Damit wird der Weg für eine längerfristige Speicherung geebnet, denn Methan lässt sich leicht speichern, auch wenn die Schweiz derzeit nicht über die entsprechenden Speicher verfügt. Diese Verbindung der Stromverteilung mit dem Gasnetz setzt das in Gang, was man als Netzkonvergenz bezeichnet.

Die Vorteile von stationären Batterien
Mit diesen Ansätzen kann das Netz weit mehr als nur Strom transportieren. Im Sommer können Batterien den tagsüber erzeugten Solarstrom speichern und über 24 Stunden verteilen. So kann beispielsweise ein abgelegener, mit Batterien ausgestatteter Bauernhof eine PV-Anlage betreiben, die deutlich leistungsfähiger ist als die Kapazität der Anschlussleitung, und einen Teil des Stroms einfach nachts ins Netz einspeisen.
Zu jeder Jahreszeit können Batterien zudem die Leistungsspitzen abdecken, die durch das Aufladen von Elektrofahrzeugen am Ende des Tages entstehen, ohne dass das Netz verstärkt werden muss. Im Sommer speichern sie den Solarstrom lokal. Im Winter werden sie über den Tag verteilt mit Wasser- und Windkraft geladen. Dadurch können sie die hohe Stromnachfrage am Abend entlasten.
Darüber hinaus können Batterien zur Redundanz und Sicherheit des Netzes beitragen, was angesichts des steigenden Anteils von Strom am Energiemix immer wichtiger wird. Ausserdem können sie unvorhergesehene Schwankungen ausgleichen, die viel Regelenergie kosten. Schliesslich ermöglichen sie durch die Zwischenspeicherung von Solarstrom den Betrieb von Elektrolyseuren rund um die Uhr während der sechs Sommermonate. Im Vergleich zu einem Betrieb von nur wenigen Hundert Stunden im Jahr sinken so die Gestehungskosten für Wasserstoff deutlich.
Um die für die Energiewende nötige lokale Kurzzeitspeicherung zu ermöglichen, sollten diese stationären Batterien über eine Gesamtkapazität in der Grössenordnung von 70 GWh verfügen, was einem Fünftel der künftigen Gesamtkapazität aller Batterien von Elektroautos entsprechen dürfte [1]. Da das Gewicht bei stationären Batterien keine Rolle spielt, sind auch lithiumfreie Technologien wie die Natrium-Ionen-Technologie denkbar.
Eine neuartige Synergie, die es zu nutzen gilt
Diese neuen Fähigkeiten des Netzes ermöglichen es, die Dekarbonisierung der Industrie und der Stromversorgung im Winter viel intelligenter anzugehen. Es gibt nämlich ungeahnte Synergien bei der Bewältigung dieser beiden Herausforderungen. Doch bevor wir auf diesen Punkt zurückkommen, wollen wir eine oft genannte, aber wenig realistische Option zur Sicherung der Stromversorgung im Winter skizzieren.
Diese Option besteht darin, überschüssigen Sommerstrom in Gas umzuwandeln, dieses monatelang zu lagern und dann im Winter wieder in Strom umzuwandeln. Dies ist jedoch aus zwei Gründen keine sinnvolle Idee. Einerseits ist diese doppelte Umwandlung mit hohen Verlusten verbunden. Es werden etwa 3 kWh Sommerstrom benötigt, um 1 kWh Winterstrom zu erzeugen. Andererseits sind die zu speichernden Gasmengen enorm: Um 10 TWh Strom im Winter zur Verfügung zu haben, müssten 20 TWh erneuerbares Gas gespeichert werden, wenn man die Verluste bei der Umwandlung von erneuerbarem Gas in Strom berücksichtigt. Dabei ist die Speicherung von erneuerbarem Gas für die Industrie noch gar nicht berücksichtigt.
Dieser Ansatz ist daher nicht zielführend. Der Schlüssel zur Synergie liegt vielmehr darin, das Synthesegas für den Hochtemperaturbereich in der Industrie zu reservieren. Die in [1] vorgeschlagene Strategie «Solar, Syngas und Industrie» (SSI) vermeidet die Verluste bei der Rückverstromung. Diese Entscheidung bedeutet, dass die jährliche Stromproduktion grosszügiger dimensioniert werden muss, damit im Winter genug Strom zur Verfügung steht, ohne dass er mithilfe von Synthesegas erzeugt werden muss. Indem das aus dem Sommerüberschuss der Stromerzeugung erzeugte Synthesegas für die Industrie reserviert wird, kann die Dekarbonisierung der industriellen Hochtemperaturprozesse praktisch ohne Erhöhung des Stromverbrauchs im Winter erreicht werden.

Ein Netz entlastet das andere
Das Stromnetz mit diesen neuen Fähigkeiten, insbesondere mit stationären Batterien, wird für die Erzeugung von Synthesegas von Vorteil sein. Es wird möglich sein, den Strom aus den Sommerspitzen über 24 Stunden verteilt für die Synthesegaserzeugung zu nutzen. Angesichts der geografischen Verteilung der Industriegebiete und der vielen Solardächer lohnt es sich, die Elektrolyseure zu dezentralisieren, um den Wasserstoff möglichst lokal zu nutzen. Dadurch kann vermieden werden, dass die Kapazitäten des Stromnetzes für den Transport über mittlere und grosse Distanzen ausgebaut werden müssen. Zudem sind die Kapazitätsreserven in den dezentralen Teilen des Netzes in der Regel grösser, da die einzelnen Anschlüsse grosszügig dimensioniert sind.
In kleinen Mengen können Wasserstoffüberschüsse in das Erdgasnetz eingespeist und übertragen werden. Werden sie grösser, können sie in Methan umgewandelt und in dieser Form über das Erdgasnetz zu grösseren Speichern, eventuell im Ausland, für die saisonale Speicherung transportiert werden. Dieser Ansatz, der auf dem bereits bestehenden Erdgasnetz aufbaut, vermeidet den teuren Aufbau eines landesweiten Wasserstoffnetzes.
Interessant ist auch die einfachere lokale Verwertung von sommerlichen Überschüssen von Solarstrom. Wenn diese anfallen, können sie vorübergehend den Einsatz von Gas in der Industrie sowie von Holz oder Gas in Fernwärmenetzen ersetzen. Diese Systeme sind nämlich auch im Sommer in Betrieb, um Warmwasser zu erzeugen. Durch den Einbau eines geeigneten Heizkörpers und einen sehr günstigen temporären Netztarif, der die Überschüsse verwertet [2], wird es möglich, einerseits die mit der Verbrennung von fossilem Gas verbundenen Emissionen zu reduzieren und andererseits zu vermeiden, dass im Sommer Holz verschwendet wird. Dadurch kann das Holz für den Winter aufgespart werden.
Das Netzwerk der Zukunft
Die Umsetzung dieser Strategie erfordert eine Verschiebung der Prioritäten bei den Netzinvestitionen. Anstatt den Grossteil der Anstrengungen in die Verstärkung von Leitungen und Transformatoren zu stecken, wird es in Zukunft wichtig sein, eine optimale Kombination aus Kupfer, Batterien und Elektronik anzustreben. Zudem müssen neue Verwendungszwecke für Überschüsse gesucht werden. Diese Strategie erfordert auch die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens, der diese Ziele unterstützt. Es muss anerkannt werden, dass diese neuen Netzfunktionen von allgemeinem Interesse sind und nicht nur über die Netzentgelte finanziert werden sollten. Dies ist ein weiterer Grund für die Einrichtung eines nationalen Klimafonds.
Im Zeitalter der Dekarbonisierung beschränkt sich die Rolle des Netzes nicht mehr auf den Stromtransport. Das Netz wird zu einem multifunktionalen, flexiblen und leistungsstarken Akteur in einer komplexen Energiegleichung. Diese Entwicklung ist Teil des Perspektivwechsels, den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vollziehen müssen. Denn von ihm hängt der Klimaschutz ab.
Referenzen
[1] Roger Nordmann, Klimaschutz und Energiesicherheit – Wie die Schweiz eine rasche und gerechte Wende schafft, Zytglogge Verlag, 2023.
[2] Roger Nordmann, «Lokale Verwertung der momentanen Stromüberschüsse, um die Dekarbonisierung zu beschleunigen, die Stromnetze zu entlasten und die Versorgung im Winter sicherzustellen», Motion 24.4099, im Nationalrat am 24.09.2024 eingereicht.
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