Die Künstliche Intelligenz hält Einzug ins Verteilnetz
Resilienz erhöhen
Die Zunahme der dezentral einspeisenden erneuerbaren Energiequellen stellt für das Verteilnetz eine Herausforderung dar. Nun gibt es Ansätze, um Künstliche Intelligenz zur Stabilisierung des Netzes einzusetzen. Wie dies konkret aussieht, erläutert Astrid Niesse im Interview.
Bulletin: Sie befassen sich mit dem Einsatz von KI zur Stabilisierung der Stromversorgung. Was verstehen Sie unter KI in diesem Kontext?
Astrid Niesse: Unter dem Begriff der künstlichen Intelligenz werden aktuell vor allem Methoden des maschinellen Lernens verstanden. Klassisch umfasst die KI noch viel mehr Bereiche – wann immer wir von regelbasierten Expertensystemen oder selbstlernenden und (teil-)autonomen IT-basierten Systemen im Energiebereich sprechen, gehört das zum grossen Bereich der KI. Zum Einsatz kommen KI-basierte Verfahren schon in diversen Bereichen. KI-basierte Datenanalysen werden schon vielfach genutzt, zum Beispiel für Einspeise- oder Netzzustandsprognosen. Methoden der verteilten KI setzen wir mit Praxispartnern in Feldtests um.
Braucht es bei der Stromversorgung eher dezentrale oder zentrale KI, um Herausforderungen zu meistern?
Das ist eine spannende Frage, mit der wir uns schon lange beschäftigen! Man muss auf den jeweiligen Anwendungsfall schauen: Welche Echtzeitanforderungen werden gestellt? Welche Robustheit ist nötig? Wie ist die Skalierbarkeit? Gehen Potenziale verloren, wenn wir dezentral optimieren?
Ich gehe davon aus, dass wir künftig Komponenten dezentraler und zentraler Intelligenz kombinieren werden. Faktisch sind auch die bisherigen Systeme «dezentral intelligent» – ein autonomer Regler zeigt idealerweise ohne äussere Kontrolle genau das nötige Verhalten zur Stabilisierung des Systems. Mit der Digitalisierung der Energiesysteme auf allen Ebenen bekommt das nun eine neue Dimension – da ist es dann auch möglich, bisher zentral bereitgestellte Funktionalitäten in die Fläche zu verteilen.
Wie kann man sicherstellen, dass dezentrale KI-Systeme das Netz nicht plötzlich ungewollt destabilisieren?
In der Kopplung der Systeme besteht in jedem Fall eine Herausforderung bezüglich der Stabilität. Wir setzen sie aber genau da ein, wo wir einen Stabilisierungsbedarf sehen, der in künftigen Energiesystemen nicht mehr von den herkömmlichen Automatisierungsansätzen beantwortet werden kann. Die stabile Verknüpfung der Systemwelten wird sogar durch einen anderen Trend noch stärker relevant: Mit der Sektorkopplung, der Verknüpfung der Strom-, Wärme- und Gasversorgung, können schon durch autonome Controller Destabilisierungen – z. B. Oszillationen – zwischen unterschiedlichen Systemen entstehen. Wir nutzen in unserer Forschung KI dafür, diese Effekte überhaupt erst zu erkennen und idealerweise zu verhindern.
Dezentrale KI-Systeme erhöhen die Anzahl der Zugangspunkte. Wird die Gefahr einer Cyber-Attacke grösser?
Das Problem eines Angriffs auf digitalisierte Energiesysteme ist in jedem Fall da – allerdings bereits ohne KI. Nun kann uns KI dabei helfen, die Angriffe zu erkennen, oder idealerweise bereits vor der Inbetriebnahme neuer Systeme unsere Software-Agenten lernen zu lassen, welche Angriffe erfolgen könnten. Wenn wir es dann schaffen, diese Agenten im laufenden Betrieb neue Strategien zur Verteidigung erlernen zu lassen, haben wir mit KI die Resilienz des Systems erhöht.
Könnte KI dazu beitragen, dass sich ein Netzausbau erübrigt?
Im Bereich des Redispatch sehen wir grosse Potenziale für den Einsatz von verteilter KI. Damit tragen wir zur besseren Nutzung des Netzes bei. Inwieweit das dann auch zu einer Vermeidung von Netzausbau führt, kann nur am konkreten Beispiel über den Ausbaubedarf simulativ ermittelt werden.
Was fasziniert Sie an der Kombination von KI und dem Energiesystem?
Da gibt es vieles: Insbesondere begeistert mich die Anwendung naturinspirierter Verfahren in einem solchen technischen Bereich, der gleichzeitig in der kritischen Infrastruktur liegt. Verteilte KI-Systeme so zu entwickeln, dass sie diese Anforderungen nachweislich erfüllen, begeistert mich ganz besonders.
Zur Person
Prof. Dr.-Ing. Astrid Niesse leitet die Abteilung Digitalisierte Energiesysteme an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Mitglied des Bereichsvorstands Energie im OFFIS – Institut für Informatik.
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