Die erste 145-kV-BlueGIS in der Schweiz
100% F-Gas-freie Lösung
Lange war SF6 nicht aus Schaltanlagen wegzudenken. Getrieben vom Wunsch, dem Klimawandel entgegenzuwirken, befinden wir uns in einer Transitphase zu umweltfreundlicheren Alternativgaslösungen. Eine vollkommen F-Gas-freie Form wird bereits als Clean Air für Hochspannungsprodukte angewendet. Auch in der Schweiz sind erste Schaltanlagen im Betrieb.
Die erste 145-kV-BlueGIS der Schweiz konnte 2023 für den Netzbetreiber Primeo Energie im Unterwerk Therwil in Betrieb genommen werden. Damit markiert das UW Therwil einen Meilenstein auf dem Weg zu klimafreundlichen Netzen. Die vollständig F-Gas-freien Schaltanlagen des Blue-Portfolios von Siemens Energy beinhalten anstatt des klimaschädlichen SF6 ein umweltfreundliches Gemisch aus natürlichen Gasen.
Clean Air, d.h. trockene synthetische Luft, als Isoliermedium bietet einige Vorteile gegenüber F-Gasen: Es ist frei aus europäischer Herstellung verfügbar, umweltverträglich und kann bedenkenlos an die Umwelt abgegeben werden. Clean Air als Isoliergas in Kombination mit der Vakuum-Schalttechnologie ist ungiftig und gefährdet die Umwelt nicht.
Die F-Gas-freie Lösung hat auch Primeo Energie überzeugt. Das Unternehmen gewichtet die Nachhaltigkeit bei der Planung des neuen Unterwerks hoch und konnte mit der Hochspannungs-Schaltanlage 8VN1 BlueGIS dieses Ziel erfüllen [1].
Projektablauf
Das Projekt begann mit der Unterzeichnung des Vertrags für die erste 145-kV-BlueGIS der Schweiz Mitte 2021. Ein wichtiger Meilenstein war der erfolgreiche Factory Acceptance Test im September 2022 im Berliner Schaltwerk. Mit dieser Lieferfreigabe konnten die bereits im Werk vollständig vormontierten, verdrahteten und geprüften Felder auf die LKWs verladen werden. Im Dezember 2022 wurden die Felder unter winterlichen Bedingungen in Therwil ins Unterwerk eingebracht. Im neu errichteten Gebäude begann direkt, gemeinsam mit Primeo Energie und einem lokalen Montagepartner, die punktgenaue Ausrichtung und Aufstellung der Felder sowie die Montage- und Inbetriebsetzungstätigkeiten.
Die Gase Clean Air und Helium wurden lokal beschafft. Das sich in der Anlage auf Transportdruck befindliche Clean Air konnte frei abgelassen werden, bevor die Gasräume zur Dichtheitsprüfung mit Helium befüllt wurden. Nach der Dichtheitsprüfung und Evakuierung der Gasräume wurden diese mit Clean Air auf den vorgeschriebenen Druck gefüllt. Nach Abschluss der Montage- und Inbetriebsetzungsarbeiten führte die FKH (Fachkommission für Hochspannungsfragen) die Hochspannungsprüfung durch. Mit dieser finalen bestandenen Prüfung konnte die Anlage im Februar 2023 zum Betrieb übergeben werden.
Kompaktheit und LPIT im Unterwerk Therwil
Clean-Air-Anlagen können kompakt genug sein, um innerhalb bestehender Umspannwerke aufgebaut zu werden. Da Clean Air im Vergleich zu SF6 weniger spannungsfest ist, wird für die gleiche Spannungsfestigkeit ein grösseres Volumen an Clean Air benötigt. Dieser Grössenzuwachs kann durch die Anwendung von innovativen Technologien wie digitalen Messwandlern kompensiert werden. Dadurch kann die Grösse und die benötigte Materialmenge der Schaltanlage verringert werden und der ökologische Fussabdruck wird weiter reduziert (Bild 1). Unter anderem deshalb hat sich Primeo Energie fürs UW Therwil für eine BlueGIS mit LPIT-Lösung (Low Power Instrument Transformer) entschieden. Dieser wurde über eine digitale Schnittstelle per Prozessbus an die lokale Steuerung angeschlossen.

Der LPIT für GIS kombiniert die elektronische Strom- und Spannungsmessung. Dabei werden für die Strommessung Rogowski-Spulen und für die Spannungsmessung kapazitive Feldsonden eingesetzt. Beide Sensoren sind in derselben Giessharzdurchführung integriert, die mit einer Anschlussbox für jede Phase versehen ist. Über ein Netzwerkkabel werden die analogen Signale von der Anschlussbox an die Auswertungseinheit (Siprotec 5 / IO240) übertragen, in der die Signale digitalisiert und die Messwerte ausgewertet werden.
LPIT ist flexibel, da die Strom- und Spannungsmessungen leicht durch Anpassung der Parametrierung vorgenommen werden können. Dies ist ein grosser Vorteil, da die Anlage zu Beginn nur mit 50 kV und später mit 145 kV betrieben wird. Zudem liefern die LPIT-Sensoren genauere Messergebnisse, keine Sättigung (im Gegensatz zu herkömmlichen Stromwandlern) und keine Ferroresonanzeffekte (im Gegensatz zu konventionellen Spannungswandlern).
UW Uptown Basel
Nach Therwil konnte bereits die zweite 145-kV-BlueGIS für die Schweiz zusammen mit Primeo Energie geliefert und installiert werden. Im Oktober 2023 wurde die finale Hochspannungsprüfung im UW Uptown Basel in Arlesheim bestanden, und die Anlage (Bild 2) konnte an den Endkunden UptownBasel Infra AG zum Betrieb übergeben werden.
Aufbau der 145-kV-BlueGIS
Die BlueGIS 145 kV ist eine kompakte, gasisolierte Hochspannungsschaltanlage mit einer Kurzschlussstromfestigkeit von bis zu 50 kA. Das Herzstück der Anlage ist der Leistungsschalter mit einer Vakuum-Unterbrechereinheit für das Schalten und Unterbrechen von Lastströmen, angetrieben von einem robusten Federspeicherantrieb, der von den SF6-Produkten bekannt ist. Der Antrieb kann als Gemeinschafts- oder als Einzelpolantrieb ausgeführt werden. Ein integrierter Vor-Ort-Schaltschrank enthält das Steuerungs- und Überwachungs-Equipment. Die Anlage kann mit zwei Sammelschienen ausgestattet werden, die jeweils mittels eines Trenn- und eines Erdungsschalters die sichere Wartung und das isolierte Schalten einzelner Anlagenteile ermöglichen. Strom- und Spannungswandler sind für die präzise Messung und Übertragung elektrischer Parameter integriert. Ein Abgangsmodul mit einem weiteren Trenn- und Erdungsschalter sowie einem Schnellerdungsschalter und einem Kabelanschlussmodul ermöglichen die flexible Anbindung von Netzanschlüssen.
Die Vakuum-Schaltröhre
Die Vakuumröhrentechnologie ist integraler Bestandteil der Leistungsschalter von Siemens Energy, denn sie ist zuverlässig und leistungsfähig. Die Technik ist seit mehr als vier Jahrzehnten im Mittelspannungsbereich und seit 2010 in der Hochspannung implementiert. Das dreipolig aufgebaute Schaltsystem besteht aus jeweils einer Vakuum-Schaltröhre.
Dank der hermetisch abgeschlossenen Vakuum-Unterbrechereinheit wird jeglicher Einfluss von Zersetzungsprodukten im Leistungsschalter vermieden. Dies ermöglicht eine konstante Unterbrechungsleistung bei Bemessungsnenn- und Kurzschlussströmen über den gesamten Lebenszyklus. Vakuumschalter (Bild 3) sind mechanisch sehr zuverlässig und haben im Vergleich zu SF6-Schaltgeräten eine längere elektrische Lebensdauer. Die Technologie ist zudem perfekt für niedrige Umgebungstemperaturen geeignet, da sich das Schaltmedium in diesen Fällen nicht verflüssigt. Die Vakuumröhren sind wartungsfrei dank der «sealed-for-life»-Technologie, senken dadurch Betriebskosten und eliminieren Treibhausgas-Emissionen, womit diese Lösung eine umweltfreundliche Alternative zu herkömmlichen Schalttechnologien darstellt.
Optimale Lösung für die Bahnen mit 16,7 Hz
Die für 50-/60Hz-Anwendungen verfügbare Vakuumtechnologie kann auch für 16,7-Hz-Anforderungen verwendet werden. Im Mai 2024 wurde die externe Schaltleistungsprüfung zusammen mit der SBB im Kema-Labor in Arnhem erfolgreich durchgeführt. Dieses macht die 145-kV-BlueGIS auch zu einer nachhaltigen Lösung für die 2-phasigen Bahnanwendungen (u. a. relevant in Deutschland, Österreich und Schweiz).
Lebenszyklusbetrachtung
Beim Ziel eines Null-Emissions-Netzes ist es wichtig, die Auswirkungen der Produkte auf das Klima über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg zu betrachten, wobei die Auswirkungen der Stromverluste in der Fabrik, des Transports, der Material- und Gasproduktion, des Recyclings am Ende des Lebenszyklus und viele andere Faktoren berücksichtigt werden müssen.
Abgesehen von der obersten Priorität, das Treibhauspotenzial der Aktivitäten zu reduzieren, ist die Reduzierung der Lebenszykluskosten ein weiteres Hauptanliegen der Stromnetzbetreiber. Dem kommt die Anwendung von Clean Air als Isoliergas besonders entgegen, denn es besteht aus 80% Stickstoff und 20% Sauerstoff, ist gereinigt und frei von Feuchtigkeit und kann ohne schädliche Auswirkungen auf Menschen und Umwelt in die Atmosphäre abgelassen werden. Eine Aufbereitung wie bei F-Gasen ist nicht erforderlich. Bei F-Gasen müssen Netzbetreiber den Behörden mitteilen, wie viel sie verbrauchen, welche Leckagen auftreten usw. Ausserdem muss die Ausrüstung mit F-Gasen häufig überprüft werden. All dies ist bei Clean-Air-Anlagen nicht nötig. Daher sind die Lebenszykluskosten niedriger als bei SF6 und anderen F-Gas-Lösungen.
Weitere Details zur Anwendung von Clean Air lassen sich in anderen Publikationen finden [2-3] sowie in einem übersichtlichen Vergleich aktueller F-Gas-Alternativlösungen [4].
Die EU F-Gas-Verordnung
Die Gesetzgeber weltweit spielen eine wichtige Rolle bei der Unterstützung und Beschleunigung des Ausstiegs aus F-Gasen. Bei der Überarbeitung der EU-F-Gasverordnung wurden strengere Beschränkungen für F-Gase gefordert [5]. Im Oktober 2023 wurde eine vorläufige Einigung über die schrittweise Abschaffung von F-Gasen (GWP ≥ 1) in neuen Hochspannungsschaltanlagen bis 2028/2032 erzielt. Im Januar 2024 haben das Europäische Parlament und der Europäische Rat ihre vorläufige Einigung angenommen. Diese EU-Verordnung gibt allen Schaltanlagenherstellern und Netzbetreibern einen klaren technischen Rahmen und damit Investitionssicherheit. Nun liegt es an den Herstellern und Netzbetreibern, die kommenden Übergangsphasen zu nutzen, um die Abkehr von allen F-Gasen und die Hinwendung zu einer sauberen Stromübertragung gemeinsam voranzutreiben.
Ein Überblick über die Restriktionen und Ausnahmeregelungen der EU-Regulation findet sich im Siemens Energy EU F-gas regulation factsheet [6] und beim deutschen Umweltbundesamt [7].
Weitere Entwicklungen
Siemens Energy arbeitet seit einigen Jahren an seiner Blue-Technologie und konzentrierte sich zunächst auf Spannungsebenen bis 72,5 kV. In dieser Spannungsebene wird beispielsweise die 8VM3 BlueGIS angeboten, die sehr kompakt ist und anschlussfertig geliefert wird.
Die Blue-Technologie ist heute bis 145 kV ausgereift. Das Blue-Portfolio wird derzeit für das gesamte Hochspannungsschaltanlagen-Portfolio von Siemens Energy bis zur höchsten Übertragungsebene eingeführt. Aktuell liegt der Fokus auf der Entwicklung von 420-kV-Produkten. Ab Ende 2026 ist die Verfügbarkeit der 420-kV-Variante und ab Ende 2028 die der 245-kV-Schaltanlage des Blue-Portfolios geplant.
Siemens Energy hat weltweit über 4200 Leistungsschalter und gasisolierte Schaltanlagen aus dem Clean Air Blue-Portfolio unter Vertrag. Davon sind 1500 in Betrieb und haben bis heute 4,4 Millionen Tonnen CO2-äquivalente Emissionen eingespart. Die Technologie ist bereits gut etabliert und zuverlässig. Siemens Energy hat über 50 Jahre Erfahrung in der Entwicklung von elektrischen Schaltanlagen und arbeitet seit über 40 Jahren an Vakuumschaltungen und Luftisolierung. Ziel ist es, bis 2030 ein vollständig F-Gas-freies Portfolio zu haben – dafür hat das Unternehmen über 60 Millionen Euro in eine neue Produktionsstätte in Berlin investiert. Immer mehr Firmen und Anbieter folgen diesem Beispiel. Schliesslich gibt es kein Patent oder Monopol auf Gase natürlichen Ursprungs.
Referenzen
[1] Primeo-Energie Therwil, 17.6.2022.
[2] Karsten Juhre et al., Umwelt-, Gesundheits- und Arbeitssicherheitsaspekte sowie Gashandling SF6-freier gasisolierter Hochspannungsschaltanlagen, VDE 2020.
[3] Mark Kuschel et al., Entwicklungsstand, Vor-Ort-Erfahrungen und Ausblick zu SF6-freien Hochspannungsschaltanlagen, VDE 2020.
[4] Michael Walter, «Schaltanlagen mit alternativen Isoliergasen», Bulletin Electrosuisse 1/2024, S. 40.
[5] EU F-Gas Regulation, 20.02.2024, Regulation – EU – 2024/573 – EN – EUR-Lex (europa.eu)
[6] Siemens Energy EU F-gas regulation factsheet, 01.03.2024.
[7] Umweltbundesamt, Schaltanlagen mit fluorierten Treibhausgasen – Übersicht über die Regelungen der Verordnung (EU), 1.3.2024.
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