Fachartikel Energieeffizienz , Mobilität

Die dritte Auto-Ära

Dekarbonisierung, Digitalisierung und Deprivatisierung

01.03.2017

Ganz oben auf dem Hype-Cycle sozio-technischer Trends steht heute das auto­matische Fahren. In Zukunft sollen Autos nicht mehr von ihren Lenkerin­nen und Len­kern durch dichten Verkehr gesteuert werden, sondern geleitet durch die Karten­dienste von Google und Here schneller, günstiger, sicherer, bequemer, ressourcen­schonender und klima­freundlicher ans Ziel gelangen. All das verspricht das auto­matisierte Auto, weil es nicht nur den Fahrer überflüssig macht, sondern auch den privaten Besitz eines Automobils.

Die Vision: Niemand muss sich künftig ein Auto kaufen, um auto-mobil zu sein, sondern lediglich über die App eines Mobilitäts­anbieters ein «Auto-Auto» an irgend­einen Ort bestellen, einsteigen und sich an den Zielort chauffieren lassen. Die Auto-Auto-App bietet so maximale Auto­nomie bei minimalen Mobilitäts­kosten, da eben nur noch die Nutzung und nicht mehr der Besitz verrechnet wird.

Eingebunden in eine «intermodale Mobilitäts­plattform» wird das Automobil als «Mobilitäts­produkt» nun Bestand­teil einer Palette an «Mobilitäts­diensten», die künftig unter dem Sammel­begriff «Mobility as a service» (Maas) von einem sogenan­nten Integrator angeboten und in zahl­reichen Varian­ten und zu ganz unterschied­lichen Preisen für die Kunden «buchbar» sind – genau so, wie wir das seit Jahren in ähnlicher Form von den diversen ICT-Anbie­tern bereits kennen.

Das private Auto­mobil und all das, was wir in der Vergan­gen­heit mit diesem Identifi­kations- sowie Distinktions­mittel auch noch zum Aus­druck bringen wollten, haben in der neuen Welt einer «Mobilität 4.0» keinen Platz mehr, denn hier wird das Auto auf das zurück­geworfen, was es eigentlich sein will – ein Mittel zur Überwindung des Raumes. Mit dem Auto-Auto verschwin­den dann all die nicht-intendierten Neben­effekte der klassischen Auto­mobilität, wie Kapazitäts­engpässe und Raum­knappheit in den Städten, Umwelt- und Klimafolgen sowie natürlich auch die vielen Schwer­verletzten und Verkehrs­toten auf den Strassen – so weit zusam­men­gefasst die Heilsversprechen einer vollauto­matisierten und vollinte­grierten Mobilität.

Doch nicht allen gilt das Auto-Auto als Heiland einer hochmobilen Moderne. Sowohl Automa­tisierung als auch Elektrifizierung als die zwei zen­tralen technischen Transfor­mations­pfade einer historischen Autowende haben ihre Kritiker: Skeptiker hängen der Elektromobilität einen «ökologischen Rucksack» über, der aufgrund der Energieaufwände bei der Batterieproduktion sowie Rohstoffförderung und -verarbeitung nur knapp kleiner ist, als jener einer fossil angetriebenen, verbrennungsmotorischen Mobilität. Viele der vermeintlichen Automatisierungsgegner sehen im selbstfahrenden Auto aufgrund neuer Unfallrisiken eher eine Verschlimmbesserung als eine Lösung.

Hier wird erneut deutlich, dass kaum ein anderes Alltagsartefakt die Massen so polarisiert wie das Auto. Egal ob als electric vehicle (EV) oder als automated vehicle (AV): Das Automobil ist nicht nur Hauptverkehrsmittel und damit Dreh- und Angelpunkt der modernen Alltags­mobilität, sondern auch ein Mittel zur politischen Positionierung. Doch diese polarisierten Sicht­weisen könnten angesichts der Chancen, die in den gegenwärtigen Auto-Transformationen schlummern, bald schon nicht mehr zeit­gemäss sein. Mit dem Wandel des Automobils von einer vermeintlichen Risikotechnologie zu einer Risiko­management­technik, die ihre nicht-intendierten Neben­folgen quasi in Eigenregie in den Griff bekommt, treten die Industrienationen in ein neues Zeitalter der Automobilität ein. In dieser neuen Auto-Ära verändern sich eben nicht nur die Antriebsart, Steuerungs­weise und Besitzform des Automobils, sondern der gesellschaftliche Diskurs um Nutzen und Gefah­ren der (Auto-)Mobilität insgesamt mit der Konsequenz, dass sich die  Grenzen zwischen einem (risikoreichen) privaten Individual­verkehr und einem (risikoarmen) öffentlichen Kollektiv­verkehr nahezu aufheben.  

Anbruch einer neuen Ära

In ähnlicher Weise, wie das klassische verbrennungs­motorisch angetrie­bene und persön­lich gesteuerte Automobil in Privatbesitz unsere Mobilität, Städte und Alltags­kultur vor gut 100 Jahren zu verändern begann, werden in den kommen­den Jahrzehnten elektrisch angetriebene, vollauto­matische Fahrzeuge aus der Hand teils öffentlicher, teils privater Fahrdienst­anbieter ein neues Mobilitäts­zeit­alter einläuten. Erneut wird vom Automobil ein umfassender gesellschaftlicher Wandel ausgehen, der, vielleicht anders als die Massen­­auto­mobi­lisierung Mitte des 20. Jahrhunderts, bessere Chancen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Moder­nisierung bietet und so ein neues, drittes automobiles Zeitalter einläutet.

In der ersten Auto-Ära, dem automobilen «Orthodoxikum», die bis Ende der 1960er-Jahre reichte, fand eine nahezu unreflektierte Massen­­auto­mobi­lisierung in den westlichen Industrie­nationen statt. Das Auto wurde in den Nachkriegsjahren zu einem zen­tralen Gerät in der Alltags­mobi­lität und -kultur des modernen Menschen. Es wurde gefeiert als Befreier von den räumlichen und sozialen Zwängen einer industriellen Moderne und durfte auf einem explosions­artig wachsenden Netz an Strassen- und Versorgungs­infra­strukturen ungehemmt expandieren. Städte wurden zunehmend auto­freund­licher geplant und gebaut und kein Haushalt sollte beispielsweise in Deutschland weiter als 25 km von einer Auto­bahn­auffahrt entfernt sein – wie der nach einem deutschen Verkehrs­minister benannte «Leber-Plan» noch in den 1960er-Jahren propagierte.

Spätestens mit Beginn der 1970er wurden aber auch die Kollateral­schäden dieser Massen­auto­mobilisierung immer sichtbarer und befeuerten einen zunehmend auto-kritischen gesell­schaftlichen Diskurs, in dessen Fokus neben der wach­senden Zahl von Opfern im Strassen­verkehr auch vermehrt die Umweltfolgen einer ausufernden verbrennungs­motori­schen Individual­mobilität rückten. In dieser zweiten Auto-Ära, dem «Reflexikum», wendete sich das Automobil quasi reflexiv – d.h. die Akteure des Automobilismus wurden zunehmend selbstkritischer und begannen, sich an den unbeabsichtigten Nebenfolgen der Automobilität abzuarbeiten. Neben einer schon bald Wirkung zeigenden Verkehrssicherheitsarbeit, welche seit den frühen 1970er-Jahren zu einer kontinuierlichen Reduktion der Verkehrstoten geführt hatte, wurden mit dem Katalysator in den 1980er-Jahren erste «Umwelttechnologien» in die fossilen Fahrzeuge eingebaut und damit begonnen, alternative Antriebe zu entwickeln. Auch wenn viele der Effizienz­gewinne und Emissions­reduk­tionen aus der modernen Motoren­entwi­cklung Opfer von «Rebound-Effekten» wurden, hielt nun eine andere, kritischere Autodenke Einzug in die Gesellschaft und beeinflusst bis heute den regulatorischen, städte­baulichen, verkehrs- und umwelt­politischen sowie alltags­weltlichen Umgang mit dem Automobil.

Dank dieser Auto(selbst)kritik der letzten 40 Jahre formiert sich heute ein neues Fahrzeug­paradigma, eine dritte Auto-Ära, in der das Auto­mobil nicht mehr länger die Grund­lagen seiner eigenen Repro­duktion gefährdet, sondern resiliente Strategien und Strukturen erschafft, ohne die bis dato bekannten negativen Nebenfolgen. Im «Resilientikum» ist das Auto so sicher, nachhaltig und ent­mystifiziert, dass es kaum mehr etwas gemein hat mit dem kulturellen Artefakt und Mobilitäts­werkzeug der vergangenen beiden Auto-Epochen. Doch um dort anzukommen, muss es mindestens zweierlei technische und eine soziale Trans­formation durchleben – wobei sich Letztere fast zwangsläufig aus dem umfassenden technolo­gischen Wandel ergibt: Erstens muss sich das Auto­mobil von morgen vollständig dekarbonisieren und somit elektrifi­zieren; zweitens digitalisieren und zu einem automatisch gesteuerten mobilen Endgerät werden und drittens deprivatisieren und als geteiltes, kollaboratives Mobilitätswerkzeug in einem privaten Kollektiv- bzw. öffentlichen Individualverkehr aufgehen. Nur wenn diese drei grossen «D’s» einer nachhaltigen Autowende in den kom­menden Jahren konsequent verfolgt werden, schafft das Auto den Sprung in eine neue Ära der Mobilitäts­geschichte.

Vollautomatisch und elektrisch

Damit die «Heilsversprechen» einer elektrischen und auto­matisierten Alltags­mobilität künftig auch in der Schweiz zum Tragen kommen können, braucht es eine breite gesell­schaftliche Debatte über die Grund­sätze dieser neuen Auto­mobilität, die sowohl dem Ressourcen- bzw. Klima­schutz gerecht wird und unsere Städte und Dörfer lebbarer macht, als auch der Prospe­rität der Schweizer Volkswirtschaft dient.  

Ziel einer solchen Debatte muss es sein, einen gesell­schaft­lichen Konsens über die Prinzi­pien dieser anstehen­den Auto­wende zu erarbeiten. Sie muss auf der Erkenntnis aufbauen, dass das Automobil erst durch seine Elektrifi­zierung zum Dreh- und Angel­punkt einer nach­haltigen Verkehrs­wende werden kann – während es zuvor als verbrennungs­moto­risches Fahrzeug aufgrund seiner schlechteren Gesamt­umwelt­bilanz kaum als Treiber einer solchen Verkehrswende hätte einstehen können. Es braucht also ein langfristiges Elektrifizie­rungs­ziel und einen ähnlichen regulato­rischen Schritt, wie beispiels­weise jenen der Niederländer, ab 2030 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge im Strassen­verkehr zuzulassen. 

Während mit der Elektrifizierung also die notwendige antriebs­technische Voraus­setzung für einen nach­haltigen Wandel der motorisierten Mobilität im Resilien­tikum geschaffen wird, muss nun auch ebenso mit der Automa­tisierung des Automobils und der kommenden Inverkehrs­setzung selbst­fahrender Fahrzeuge (SFF) die hinrei­chende Voraus­setzung erbracht werden: Sorgt der emissionsfreie Elektro­antrieb in einem ersten Schritt für einen Quantensprung bei der Energieeffizienz, so liefert das öffentliche vollauto­matische Auto im zweiten Schritt massive Zuwächse bei der Nutzungs­effizienz, indem deutlich weniger selbst­fahrende Fahrzeuge dank optimierter Auslastung die gleiche Verkehrsleistung erbringen wie die bisherige Flotte herköm­mlicher Privatwagen – ohne einen ähnlich hohen Flächen­bedarf im rollenden und ruhenden Verkehr und ohne die Freiheit seiner Nutzer gegenüber einem traditio­nellen Auto in Privatbesitz ein­zuschränken.

Ohne die Elektrifizierung des automobilen Antriebs­strangs wäre die Automa­tisierung des klassischen MIV bestenfalls eine Verschlimm­bes­serung der bestehen­den ressourcen­inten­siven und klima­schädlichen verbrennungs­moto­rischen Automobilität – aber keinesfalls der neue Hoffnungs­träger eines neuen nachhaltigen Mobilitäts­paradigmas. Kurzum, nur als EV hat das AV eine Chance und nur kolla­borativ genutzt macht es letztlich den kostspieligen privaten Besitz eines Automobils überflüssig und kann seinen künftigen Nutzern deutlich mehr Auto­nomie zu geringeren Kosten bieten.

Titelbild: Die Post

Autor
Dr. Jörg Beckmann

ist seit 2008 Direktor der Mobilitätsakademie des Touring Club Schweiz.

  • Mobilitätsakademie AG, 3001 Bern

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