Die dritte Auto-Ära
Dekarbonisierung, Digitalisierung und Deprivatisierung
Ganz oben auf dem Hype-Cycle sozio-technischer Trends steht heute das automatische Fahren. In Zukunft sollen Autos nicht mehr von ihren Lenkerinnen und Lenkern durch dichten Verkehr gesteuert werden, sondern geleitet durch die Kartendienste von Google und Here schneller, günstiger, sicherer, bequemer, ressourcenschonender und klimafreundlicher ans Ziel gelangen. All das verspricht das automatisierte Auto, weil es nicht nur den Fahrer überflüssig macht, sondern auch den privaten Besitz eines Automobils.
Die Vision: Niemand muss sich künftig ein Auto kaufen, um auto-mobil zu sein, sondern lediglich über die App eines Mobilitätsanbieters ein «Auto-Auto» an irgendeinen Ort bestellen, einsteigen und sich an den Zielort chauffieren lassen. Die Auto-Auto-App bietet so maximale Autonomie bei minimalen Mobilitätskosten, da eben nur noch die Nutzung und nicht mehr der Besitz verrechnet wird.
Eingebunden in eine «intermodale Mobilitätsplattform» wird das Automobil als «Mobilitätsprodukt» nun Bestandteil einer Palette an «Mobilitätsdiensten», die künftig unter dem Sammelbegriff «Mobility as a service» (Maas) von einem sogenannten Integrator angeboten und in zahlreichen Varianten und zu ganz unterschiedlichen Preisen für die Kunden «buchbar» sind – genau so, wie wir das seit Jahren in ähnlicher Form von den diversen ICT-Anbietern bereits kennen.
Das private Automobil und all das, was wir in der Vergangenheit mit diesem Identifikations- sowie Distinktionsmittel auch noch zum Ausdruck bringen wollten, haben in der neuen Welt einer «Mobilität 4.0» keinen Platz mehr, denn hier wird das Auto auf das zurückgeworfen, was es eigentlich sein will – ein Mittel zur Überwindung des Raumes. Mit dem Auto-Auto verschwinden dann all die nicht-intendierten Nebeneffekte der klassischen Automobilität, wie Kapazitätsengpässe und Raumknappheit in den Städten, Umwelt- und Klimafolgen sowie natürlich auch die vielen Schwerverletzten und Verkehrstoten auf den Strassen – so weit zusammengefasst die Heilsversprechen einer vollautomatisierten und vollintegrierten Mobilität.
Doch nicht allen gilt das Auto-Auto als Heiland einer hochmobilen Moderne. Sowohl Automatisierung als auch Elektrifizierung als die zwei zentralen technischen Transformationspfade einer historischen Autowende haben ihre Kritiker: Skeptiker hängen der Elektromobilität einen «ökologischen Rucksack» über, der aufgrund der Energieaufwände bei der Batterieproduktion sowie Rohstoffförderung und -verarbeitung nur knapp kleiner ist, als jener einer fossil angetriebenen, verbrennungsmotorischen Mobilität. Viele der vermeintlichen Automatisierungsgegner sehen im selbstfahrenden Auto aufgrund neuer Unfallrisiken eher eine Verschlimmbesserung als eine Lösung.
Hier wird erneut deutlich, dass kaum ein anderes Alltagsartefakt die Massen so polarisiert wie das Auto. Egal ob als electric vehicle (EV) oder als automated vehicle (AV): Das Automobil ist nicht nur Hauptverkehrsmittel und damit Dreh- und Angelpunkt der modernen Alltagsmobilität, sondern auch ein Mittel zur politischen Positionierung. Doch diese polarisierten Sichtweisen könnten angesichts der Chancen, die in den gegenwärtigen Auto-Transformationen schlummern, bald schon nicht mehr zeitgemäss sein. Mit dem Wandel des Automobils von einer vermeintlichen Risikotechnologie zu einer Risikomanagementtechnik, die ihre nicht-intendierten Nebenfolgen quasi in Eigenregie in den Griff bekommt, treten die Industrienationen in ein neues Zeitalter der Automobilität ein. In dieser neuen Auto-Ära verändern sich eben nicht nur die Antriebsart, Steuerungsweise und Besitzform des Automobils, sondern der gesellschaftliche Diskurs um Nutzen und Gefahren der (Auto-)Mobilität insgesamt mit der Konsequenz, dass sich die Grenzen zwischen einem (risikoreichen) privaten Individualverkehr und einem (risikoarmen) öffentlichen Kollektivverkehr nahezu aufheben.
Anbruch einer neuen Ära
In ähnlicher Weise, wie das klassische verbrennungsmotorisch angetriebene und persönlich gesteuerte Automobil in Privatbesitz unsere Mobilität, Städte und Alltagskultur vor gut 100 Jahren zu verändern begann, werden in den kommenden Jahrzehnten elektrisch angetriebene, vollautomatische Fahrzeuge aus der Hand teils öffentlicher, teils privater Fahrdienstanbieter ein neues Mobilitätszeitalter einläuten. Erneut wird vom Automobil ein umfassender gesellschaftlicher Wandel ausgehen, der, vielleicht anders als die Massenautomobilisierung Mitte des 20. Jahrhunderts, bessere Chancen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Modernisierung bietet und so ein neues, drittes automobiles Zeitalter einläutet.
In der ersten Auto-Ära, dem automobilen «Orthodoxikum», die bis Ende der 1960er-Jahre reichte, fand eine nahezu unreflektierte Massenautomobilisierung in den westlichen Industrienationen statt. Das Auto wurde in den Nachkriegsjahren zu einem zentralen Gerät in der Alltagsmobilität und -kultur des modernen Menschen. Es wurde gefeiert als Befreier von den räumlichen und sozialen Zwängen einer industriellen Moderne und durfte auf einem explosionsartig wachsenden Netz an Strassen- und Versorgungsinfrastrukturen ungehemmt expandieren. Städte wurden zunehmend autofreundlicher geplant und gebaut und kein Haushalt sollte beispielsweise in Deutschland weiter als 25 km von einer Autobahnauffahrt entfernt sein – wie der nach einem deutschen Verkehrsminister benannte «Leber-Plan» noch in den 1960er-Jahren propagierte.
Spätestens mit Beginn der 1970er wurden aber auch die Kollateralschäden dieser Massenautomobilisierung immer sichtbarer und befeuerten einen zunehmend auto-kritischen gesellschaftlichen Diskurs, in dessen Fokus neben der wachsenden Zahl von Opfern im Strassenverkehr auch vermehrt die Umweltfolgen einer ausufernden verbrennungsmotorischen Individualmobilität rückten. In dieser zweiten Auto-Ära, dem «Reflexikum», wendete sich das Automobil quasi reflexiv – d.h. die Akteure des Automobilismus wurden zunehmend selbstkritischer und begannen, sich an den unbeabsichtigten Nebenfolgen der Automobilität abzuarbeiten. Neben einer schon bald Wirkung zeigenden Verkehrssicherheitsarbeit, welche seit den frühen 1970er-Jahren zu einer kontinuierlichen Reduktion der Verkehrstoten geführt hatte, wurden mit dem Katalysator in den 1980er-Jahren erste «Umwelttechnologien» in die fossilen Fahrzeuge eingebaut und damit begonnen, alternative Antriebe zu entwickeln. Auch wenn viele der Effizienzgewinne und Emissionsreduktionen aus der modernen Motorenentwicklung Opfer von «Rebound-Effekten» wurden, hielt nun eine andere, kritischere Autodenke Einzug in die Gesellschaft und beeinflusst bis heute den regulatorischen, städtebaulichen, verkehrs- und umweltpolitischen sowie alltagsweltlichen Umgang mit dem Automobil.
Dank dieser Auto(selbst)kritik der letzten 40 Jahre formiert sich heute ein neues Fahrzeugparadigma, eine dritte Auto-Ära, in der das Automobil nicht mehr länger die Grundlagen seiner eigenen Reproduktion gefährdet, sondern resiliente Strategien und Strukturen erschafft, ohne die bis dato bekannten negativen Nebenfolgen. Im «Resilientikum» ist das Auto so sicher, nachhaltig und entmystifiziert, dass es kaum mehr etwas gemein hat mit dem kulturellen Artefakt und Mobilitätswerkzeug der vergangenen beiden Auto-Epochen. Doch um dort anzukommen, muss es mindestens zweierlei technische und eine soziale Transformation durchleben – wobei sich Letztere fast zwangsläufig aus dem umfassenden technologischen Wandel ergibt: Erstens muss sich das Automobil von morgen vollständig dekarbonisieren und somit elektrifizieren; zweitens digitalisieren und zu einem automatisch gesteuerten mobilen Endgerät werden und drittens deprivatisieren und als geteiltes, kollaboratives Mobilitätswerkzeug in einem privaten Kollektiv- bzw. öffentlichen Individualverkehr aufgehen. Nur wenn diese drei grossen «D’s» einer nachhaltigen Autowende in den kommenden Jahren konsequent verfolgt werden, schafft das Auto den Sprung in eine neue Ära der Mobilitätsgeschichte.
Vollautomatisch und elektrisch
Damit die «Heilsversprechen» einer elektrischen und automatisierten Alltagsmobilität künftig auch in der Schweiz zum Tragen kommen können, braucht es eine breite gesellschaftliche Debatte über die Grundsätze dieser neuen Automobilität, die sowohl dem Ressourcen- bzw. Klimaschutz gerecht wird und unsere Städte und Dörfer lebbarer macht, als auch der Prosperität der Schweizer Volkswirtschaft dient.
Ziel einer solchen Debatte muss es sein, einen gesellschaftlichen Konsens über die Prinzipien dieser anstehenden Autowende zu erarbeiten. Sie muss auf der Erkenntnis aufbauen, dass das Automobil erst durch seine Elektrifizierung zum Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen Verkehrswende werden kann – während es zuvor als verbrennungsmotorisches Fahrzeug aufgrund seiner schlechteren Gesamtumweltbilanz kaum als Treiber einer solchen Verkehrswende hätte einstehen können. Es braucht also ein langfristiges Elektrifizierungsziel und einen ähnlichen regulatorischen Schritt, wie beispielsweise jenen der Niederländer, ab 2030 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge im Strassenverkehr zuzulassen.
Während mit der Elektrifizierung also die notwendige antriebstechnische Voraussetzung für einen nachhaltigen Wandel der motorisierten Mobilität im Resilientikum geschaffen wird, muss nun auch ebenso mit der Automatisierung des Automobils und der kommenden Inverkehrssetzung selbstfahrender Fahrzeuge (SFF) die hinreichende Voraussetzung erbracht werden: Sorgt der emissionsfreie Elektroantrieb in einem ersten Schritt für einen Quantensprung bei der Energieeffizienz, so liefert das öffentliche vollautomatische Auto im zweiten Schritt massive Zuwächse bei der Nutzungseffizienz, indem deutlich weniger selbstfahrende Fahrzeuge dank optimierter Auslastung die gleiche Verkehrsleistung erbringen wie die bisherige Flotte herkömmlicher Privatwagen – ohne einen ähnlich hohen Flächenbedarf im rollenden und ruhenden Verkehr und ohne die Freiheit seiner Nutzer gegenüber einem traditionellen Auto in Privatbesitz einzuschränken.
Ohne die Elektrifizierung des automobilen Antriebsstrangs wäre die Automatisierung des klassischen MIV bestenfalls eine Verschlimmbesserung der bestehenden ressourcenintensiven und klimaschädlichen verbrennungsmotorischen Automobilität – aber keinesfalls der neue Hoffnungsträger eines neuen nachhaltigen Mobilitätsparadigmas. Kurzum, nur als EV hat das AV eine Chance und nur kollaborativ genutzt macht es letztlich den kostspieligen privaten Besitz eines Automobils überflüssig und kann seinen künftigen Nutzern deutlich mehr Autonomie zu geringeren Kosten bieten.
Titelbild: Die Post
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