Meinung Energiemarkt , Regulierung

Die alte Geschichte vom «doppelten» Abschreiben des Stromnetzes

Gastbeitrag zum Thema Netzkosten

13.12.2018

Die teilweise Öffnung des Strommarktes ist nun schon 10 Jahre her. Damit einher ging die Etablierung einer umfassenden Netzregulierung, welche auf einer Entflechtung des Netzes von den übrigen Tätigkeiten und einer Definition der anrechenbaren Netzkosten inklusive einem angemessenen Gewinn basiert. Seit 10 Jahren überwacht die eigens dafür eingesetzte Regulierungsbehörde ElCom die Einhaltung dieser Vorgaben durch die rund 640 Stromversorger, welche überwiegend den Gemeinden und Kantonen gehören. Der Wert des von ihnen gehaltenen Schweizer Stromnetzes beläuft sich auf rund 20 Milliarden Franken. Jährlich werden rund 1,4 Milliarden Franken ins Verteilnetz investiert. Gleichzeitig werden jährlich knapp 900 Millionen Franken an Abschreibungen von den Netzbetreibern geltend gemacht. Im Mittel werden damit gut 60 % mehr in die Erneuerung und Erweiterung der Netzanlagen gesteckt, als zugleich abgeschrieben werden. Soweit die Ausgangslage.

Nun kommt mit der Revision des Stromversorgungsgesetz die volle Marktöffnung und damit auch die Weiterentwicklung der Regulierung der Netzbetreiber erneut zur Diskussion. Während Herr und Frau Schweizer sich weiterhin kaum für ihre Stromrechnung und insbesondere wenig bis gar nicht für die Zusammenhänge in diesem komplexen Geflecht von Markt und Regulierung interessieren, haben die Schweizer Tageszeitungen – zumindest gemessen an den Publikationen der letzten Wochen – geradezu einen «Narren» am Thema Strommarkt gefressen. Einzelne Tageszeitungen wärmen dabei das alte Bild der Stromfirmen als «Abzocker» wieder auf. Dabei wird insbesondere auch die Geschichte vom «doppelten Abschreiben» der Stromnetze wieder munter aufgefrischt. Gemäss einem Artikel im Tagesanzeiger sei der Hauptgrund für die grossen Unterschiede die sogenannte synthetische Bewertung des Stromnetzes. Dies entspreche einer «künstlichen» Bewertung des Stromnetzes. In einigen Versorgungsgebieten der Schweiz liefen daher die Kunden Gefahr, das Netz doppelt zu bezahlen. Die besagte Ausnahmeregelung wird kurzerhand als «Netzabzockerparagrafen» betitelt, welcher von Anbietern frei angewendet werden könne. Aufgrund solcher Aussagen aufgeschreckt, wollen nun Bundespolitiker im Rahmen der laufenden Revision des Stromversorgungsgesetzes eingreifen, schwarze Listen erstellen und die «Abzocker» stoppen.

Solchen medialen «Kampagnen» – wie und woher sie auch immer motiviert sind – sollte man mit gewisser Gelassenheit und basierend auf Fakten begegnen. Dass die Strompreisdifferenzen in der Schweiz erheblich und teilweise bedingt nachvollziehbar sind, ist korrekt. Das bei Schweizer Netzbetreibern erhebliche Effizienzpotenziale schlummern und dass die bisherige Regulierung nicht genügend Anreize für Effizienzsteigerungsmassnahmen gebracht hat, ist ebenfalls ein Fakt. Das jedoch alle gewinnorientierten Stromversorger – deren Gewinne letztlich der öffentlichen Hand als grossmehrheitliche Eigentümerin zugutekommen – nun als reine «Abzocker» dargestellt werden, kann so nicht stehen gelassen werden.

Insbesondere ist schlicht falsch, zu behaupten, dass die Verteilnetzbetreiber nach Lust und Laune ihre Netze neu bewertet hätten und die ElCom diesem Verhalten machtlos zuschauen müsse. Die ElCom und die Gerichte haben in zahlreichen Prozessen über die Fragen der Bewertung von Stromnetzen geurteilt und die Vorgaben in Gesetz und Verordnung sehr präzise ausgelegt. Die ElCom hat unzählige Netzbewertungen in aufwendigen Verfahren geprüft (und ist laufend daran, weitere zu prüfen). Teilweise wurden diese Netzbewertungen gutgeheissen, in zahlreichen Fällen – meist zurecht – auch nach unten korrigiert. Es ist nicht zutreffend, wenn behauptet wird, dass jeder Netzbetreiber seine Netze nach Lust und Laune synthetisch, das heisst auf der Basis von indexierten Wiederbeschaffungskosten, bewerten kann. Diese Methode ist als Ausnahmebestimmung in Art. 13 Abs. 4 der Stromversorgungsverordnung vorgesehen und wurde so vom Bundesgericht auch bestätigt. Nur gerade jene Netzbetreiber, welche für gewisse Perioden oder Anlagearten nachweislich und glaubwürdig keine historischen Abrechnungsdaten mehr haben, können in den betreffenden, meist weit zurückliegenden Perioden diese Methode anwenden. Gerade in diesem Punkt sowie auch in der Anwendung der Methode selbst ist die ElCom als Regulierungsbehörde strikt und kürzt unbegründete oder überhöhte Netzwerte konsequent. Nur so ist auch zu erklären, wieso viele Schweizer Netzbetreiber in den letzten 10 Jahren massive Anstrengungen zur historischen Bewertung ihrer Netze unternommen haben.

Dass mit einer objektiven Netzbewertung basierend auf historischen Anschaffungswerten keine doppelte Abschreibung erfolgt, zeigt bereits die heutige Abschreibungsquote von gerade mal noch 60 % im Verhältnis zu den effektiv getätigten Investitionen deutlich. Dabei sind die bis ins Jahr 2035 unter Berücksichtigung der Energiestrategie 2050 erwarteten Investitionen von rund 40 Milliarden Franken in die Schweizer Netzinfrastruktur nicht berücksichtigt. Zudem wurde diese Frage spätestens 2012 vor Bundesgericht auch rechtlich geklärt. Eine objektive, betriebswirtschaftliche Netzbewertung ist als Grundlage für eine Netzentgeltregulierung gerade zentral und nicht missbräuchlich, wie das nun medial suggeriert wird. In der Botschaft zum heute geltenden Stromversorgungsgesetz hat der Bundesrat bereits 2004 dargelegt, dass Sonderabschreibungen der Vergangenheit, welche aus steuerlichen oder bilanzpolitischen Gründen zur Verminderung des Gewinnausweises vorgenommen wurden und zur Bildung von stillen Reserven führten, korrigiert werden sollen. Das Bundesgericht stellte 2012 denn auch nochmals und abschliessend fest, dass weder der finanzbuchhalterische Buchwert, noch die historische Aktivierungspraxis, noch die historische Abschreibungspraxis für die Bestimmung der betriebswirtschaftlichen Anlagenwerte nach Stromversorgungsgesetz Bedeutung haben. Dies würde nämlich sonst dazu führen, dass gerade nicht gewinnmaximierende Genossenschaften oder Gemeindeunternehmen, welche ihre Anlagen unter dem Obligationenrecht oder gemäss den verbindlichen Vorgaben der öffentlich Rechnungslegung in der Vergangenheit viel zu schnell abgeschrieben haben (und damit ihre Ergebnisse künstlich tiefer darstellten), heute aufgrund der fehlenden Anlagenwerte gar keine Abschreibungen und damit keine Refinanzierung der notwendigen Investitionen sicherstellen dürften. Gemäss Art. 15 Abs. 3 lit. b des Stromversorgungsgesetzes ist der Gewinn der Netzbetreiber mit aktuell 3,83 % vom Netzwert abschliessend und als Maximum definiert. Auch gewinnorientierte Netzbetreiber (beispielsweise BKW) müssen sich an diese Regeln halten. Nicht gewinnorientierte können freiwillige auf einen (anteiligen) Gewinn verzichten. Dass dies Tarifvorteile für entsprechende Endkunden zur Folge hat, wenn Netzbetreiber beziehungsweise deren Eigentümer auf Gewinne verzichten, versteht sich von selbst. Während die Gewinnerzielung in einem engen Rahmen im Ermessen der Netzbetreiber beziehungsweise deren Eigentümer steht, würden fehlende betriebswirtschaftliche Abschreibungen zu einer massiven Entwertung des Schweizer Stromnetzes und zur Gefährdung des geplanten, notwendigen Netzausbaus führen. Ich glaube nicht, dass dies das Ziel einer sinnvollen Regulierung und schon gar nicht im Sinne der Energiestrategie 2050 sein kann. Solche Forderungen schiessen schlicht massiv am berechtigten Ziel von mehr Effizienz von Netzbetreibern vorbei.

Es ist zu hoffen, dass der nun angelaufene Revisionsprozess des Stromversorgungsgesetzes diese Grundprinzipien einer Entgeltregulierung berücksichtigen wird. Gemäss dem Vorschlag des Bundesrates soll die heutige Netzregulierung beibehalten, aber mit der Publikation von Kosten- und Qualitätsbenchmarks ergänzt werden (sogenannte «Sunshine Regulierung»). Diese Weiterentwicklung dürfte für die kleinräumige Schweiz und unter Beachtung der Eigentumsverhältnisse eine erfolgsversprechende und effiziente Form einer Effizienzregulierung darstellen. Mehr Transparenz und mehr Effizienz sind für Kunden, Eigentümer, Regulierer und Gesetzgeber wichtig. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass auch damit längst nicht alle Strompreisdifferenzen beseitigt und keine nachhaltig sinkenden Preise resultieren werden. Dies schliessen alleine schon die massiven, notwendigen Investitionen in die Netzinfrastruktur sowie in die Versorgungssicherheit aus. Damit werden wir uns als Endkunden – Marktöffnung hin oder her – wohl oder übel abfinden müssen. Vielleicht steigt ja dann zumindest mit dieser Entwicklung das wirkliche Interesse von Herr und Frau Schweizer an ihrer Stromrechnung.

Autor
Dr. Markus Flatt

ist Regulierungsexperte und Partner von EVU Partners AG.

  • EVU Partners AG, 5000 Aarau

Kommentare

Robert Hauser,

Wie lange dürfen bei EFH Netzkosten in Rechnung gestellt werden? Sind diese Netzkosten nicht nach 30-40 Jahren hinfällig, da bereits abgeschrieben?

Antwort von Dr. Markus Flatt:
Netzkosten werden allen Netznutzern gemäss den für sie gültigen Tarifen wiederkehrend (ohne Enddatum), solange das Netz genutzt wird, in Rechnung gestellt. Dabei werden von den Verteilnetzbetreibern die Altersstruktur beziehungsweise die abgeschriebenen Anlagen entsprechend berücksichtigt. Bereits vollständig abgeschriebene Anlagen fliessen auch nicht mehr in die Netztarifberechnung mit ein. Sobald eine Anlage ersetzt wird, fallen aber wiederum Abschreibungen und Zinsen an. Da ein Verteilnetz nie vollständig abgeschrieben sein und laufend erneuert wird und weil dafür zusätzlich auch Betriebskosten und Kosten der vorgelagerten Netzebenen anfallen, werden die Netzkosten für einen Netzkunden, zum Beispiel auch für ein EFH, nie null sein.

Martin Blapp,

Wie verhält es sich bei einem Verkauf eines Verteilnetz-Gebietes eines EVU an ein anderes EVU? Darf dann das bestehende Netz nochmals komplett zum geschätzten Einstandspreis abgeschrieben werden, weil es einer Neubeschaffung gleichkommt? Natürlich sind die Beschaffungspreise nicht so hoch wie beim Neukauf, aber der Verkäufer schaut ja, dass er einen möglichst hohen Preis erzielt. So geschehen hier beim Verkauf des Stromnetzes der AVAG von der a.en zu der Primeo AG.

Antwort von Dr. Markus Flatt:

Nein, aus regulatorischer Sicht gilt nach StromVG strikt das Anschaf­fungs­wert­prinzip. Sprich auch bei einem Netzkauf können vom Käufer nur die jeweiligen historischen Anschaf­fungs­werte abzüglich den notwendigen Abschreibungen angesetzt werden. Eine Neubewertung ist bei einem Netzkauf zwar für die Ermittlung eines Kaufpreises möglich, jedoch regulatorisch nicht relevant. Bezahlt ein Käufer einen höheren Preis (Goodwil), so muss er diese Differenz anderweitig finanzieren.

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