Fachartikel Erneuerbare Energien

Die Alpen als Batterie – Trumpf der Wende

Wassermanagement-Modell

04.02.2021

Die Wasserkraft in den Alpen wird ihre Rolle als Rückgrat der Versorgungssicherheit in der Schweiz festigen. Eine Studie der Forces Motrices Valaisannes (FMV) stellt ein ganz neues Modell für integrales Wassermanagement mit überregionalen Einzugsgebieten vor, das für die Akteure in der Schweiz und in Europa vielversprechende Möglichkeiten birgt.

Fünf Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen wird der Klimawandel weltweit bekämpft. In den einzelnen Staaten wird die CO2-Neutralität bis 2050 zum Standard. In der Schweiz stimmt das Stimmvolk voraussichtlich im Juni über das CO2-Gesetz ab, da einige die Vorlage für zu radikal halten, während sie anderen zu wenig weit geht. Eines ist sicher: Die klimapolitischen Massnahmen orientieren sich einerseits an mehr Energieeffizienz und andererseits am Übergang von fossilen Energieträgern zu erneuerbaren Energien.

Vor dem Hintergrund des weltweiten Kampfs gegen die Klimaerwärmung unterstützt die Energiestrategie 2050 nicht nur diese Dekarbonisierungsziele, sondern bestätigt auch den schrittweisen Ausstieg aus der Kernkraft.

Die Kantone arbeiten ihrerseits an der Umsetzung der vom Volk gewünschten Energiewende. So strebt etwa der Kanton Wallis bis 2060 eine zu 100 % erneuerbare und einheimische Versorgung an.[1]

Die Herausforderungen der Energiewende

Diese politischen Ansätze ziehen verschiedene Herausforderungen nach sich. Heute produzieren die Kernkraftwerke 35 % des Schweizer Stroms. Ein Ausstieg aus der Kernkraft und eine gleichzeitige Abwendung von den fossilen Energieträgern, um die CO2-Neutralität zu erreichen, bedeuten auch, dass im Winter weniger Strom produziert wird. Also genau dann, wenn der Verbrauch höher ist als im Sommer.

In ihren Szenarien gehen die Experten bei einem Zeithorizont von 15 Jahren von einem grossen Defizit im Winter aus, da das Potenzial der neuen erneuerbaren Energieträger Photovoltaik und Windkraft innerhalb der heutigen Rahmenbedingungen nicht vollumfänglich ausgeschöpft werden kann. In einem Grundlagenpapier aus dem letzten Jahr [2] vertritt die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) die Ansicht, dass ein Grossteil der im Winter wegfallenden Kernenergie künftig primär durch Importe ersetzt werden müsse.

Allerdings bestünden hinsichtlich der zukünftigen Exportfähigkeit und Exportwilligkeit der Nachbarländer erhebliche Unsicherheiten. Aus diesem Grund erachtet es die ElCom als notwendig, ein rechtlich verbindliches Zubauziel von Erzeugungskapazitäten im Rahmen der Revision des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) gesetzlich zu verankern.

Der Bund legt die Ziele für die Wasserkraft fest

Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist sich der politischen Dimension der Schlussfolgerungen dieser Gutachten zur Versorgungssicherheit bewusst. Die Umweltministerin erklärte am 18. August 2020 an einem runden Tisch zum Thema Wasserkraft, es stelle sich nicht die Frage, ob die Schweiz ihre Wasserkraft weiterentwickeln wolle, sondern wie sie diese Erweiterung mit möglichst geringen Auswirkungen auf die Umwelt und den Landschaftsschutz umsetzen könne.

Der Bundesrat anerkennt damit die Notwendigkeit, diese hundertjährige Energie weiterzuentwickeln. Oder anders ausgedrückt: Der Ausbau der Erzeugungskapazitäten bei der Wasserkraft wird für die laufende Restrukturierung der Energieversorgung des Landes, in der der Strom eine zentrale Rolle spielen wird, als unerlässlich erachtet. Der Bund hat den Beitrag der Wasserkraft zur Umsetzung dieser langfristigen Ziele evaluiert. Angestrebt wird bis 2040 eine zusätzliche Winterproduktion von 2 TWh pro Jahr mit entsprechenden Speicherkapazitäten.

Das Wallis verfolgt einen innovativen Ansatz

In Anbetracht der relativ angespannten Situation im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit, aber auch mit dem Umweltschutz bietet eine im Oktober 2020 veröffentlichte Walliser Studie mit dem nüchternen Titel «Grundlagenstudie zum Potenzial der Wasserkraft im Wallis» [3] interessante Schlussfolgerungen.

Das vom Departement für Finanzen und Energie beim Unternehmen Forces Motrices Valaisannes (FMV), dessen Mehrheitsaktionär der Kanton ist, in Auftrag gegebene Dokument liefert in einem ganzheitlichen Ansatz einen Überblick über die Einzugsgebiete und hebt dabei deren Potenzial für die winterliche Stromproduktion hervor, aber auch die bestehenden Umweltschutzgebiete sowie die Heimfallagenda für die bestehenden Wasserrechtskonzessionen. Die Studie konzentriert sich hauptsächlich auf die Grosswasserkraftanlagen (>10 MW) und zeigt Optimierungsmöglichkeiten auf, sei es durch einen Ausbau oder durch den Zusammenschluss künftiger Anlagen im Zusammenhang mit dem zeitlichen Ablauf der bestehenden Wasserrechtskonzessionen und aus geografischer Sicht mit der Multifunktionalität der «Ressource Wasser». Der Fokus liegt dabei insbesondere auf der Analyse des Ausbaupotenzials der Winterproduktion und der Flexibilität der Anlagen.ynthesis Report, 2019.

Im Dokument wird auf 26 Seiten eine ganze Reihe von Elementen aufgeführt, analysiert, modelliert und gefordert. Gleichzeitig werden die ersten Grundsteine für künftige Diskussionen gelegt. Zu erwähnen ist in erster Linie der innovative überregionale Ansatz des Einzugsgebietsmanagements. Es sei darauf hingewiesen, dass im Wallis die Gewässer in den Seitentälern den Gemeinden gehören, die ihre Wasserrechte abtreten können. Der entsprechende rechtliche Rahmen existiert auf Bundesebene seit 1916.

So haben die lokalen Gemeinwesen die Nutzungsrechte für ihre Gewässer Elektrizitätsunternehmen überlassen, die Pioniere in der Umsetzung von Stauanlagen waren. Diese Bauwerke erforderten die Mobilisierung enormer Finanzmittel, die im Kanton nicht zur Verfügung standen.

Während fast 100 Jahren war die Entwicklung der Wasserkraft von einem fragmentierten Ansatz geprägt, da jede Anlage einerseits den Strombedarf der Projektträger abdecken sollte und andererseits basierend auf einem spezifischen technischen Konzept errichtet wurde.

Vielversprechend: die multifunktionale Nutzung

Diese Grundlagenstudie legt nun den Fokus auf den Grundsatz des integralen Wassermanagements sowie auf eine überregionale Vision von zehn Einzugsgebieten. Der Ansatz unterscheidet sich so von einem rein geografischen Management, das nur das Grundgebiet der 82 Walliser Konzes­sionsgemeinden berücksichtigt.[4]

Die Experten der FMV nutzen den Überblick über sämtliche Rhonezuflüsse, um eine rationelle Nutzbarmachung und einen nachhaltigen Umgang mit der «Ressource Wasser» zu erreichen. Eine ganzheitliche Vision, die es de facto erlaubt, das neue «Wasserkraftwerk Wallis» zu konzipieren.

Um die grossen Herausforderungen des Vorhabens zu erkennen, werden alle Variablen berücksichtigt: Produktion, Vermarktung und Synergien der Wasserkraft, natürlich im Rahmen der Heimfälle der Konzessionen, aber auch die Wassernutzung als Trinkwasser, für die Landwirtschaft (Bewässerung), für den Tourismus (künstliche Beschneiung) oder die Industrie, Gewässerschutz zur Erhaltung der Biodiversität und Hochwasserschutz aus dem Blickwinkel des Umgangs mit Naturgefahren.

Walliser Winterpotenzial über den Erwartungen des Bundes

Das Wallis produziert mit seinen 160 Kraftwerken rund 10 TWh und folglich durchschnittlich über einen Viertel der in der Schweiz erzeugten Wasserkraft (37 TWh). Damit ist der Kanton der grösste Produzent in der Schweiz. Vor diesem Hintergrund hebt das Inventar bestimmte Einzugsgebiete hervor, die wegen ihrer Topografie und ihrer Hydrologie zur Steigerung der Winterproduktion beitragen können.

Das Potenzial variiert jedoch je nach Region beträchtlich: von 0,06 TWh im Einzugsgebiet Dranses über 0,6 TWh für Grande-Dixence bis 1 TWh für Saltina/Aletsch/Goms. In diesem ersten Ansatz haben die Experten ein Winterpotenzial von rund 2,2 TWh ausgemacht. Dabei handelt es sich natürlich um ein theoretisches Potenzial, da dabei nur die geografischen und technischen Kriterien berücksichtigt wurden. Diese Zahl entspricht mehr oder weniger der vom Bund gewünschten Steigerung der Winterproduktion aus Speicherkraftwerken.

Um dieses Potenzial erreichen zu können, braucht es laut dieser Studie einen Ausbau der Speicherkapazitäten sowie eine Verschiebung der Energie vom Sommer in den Winter. Das Kompetenzzentrum der FMV schätzt das Ausbaupotenzial dieser Kapazitäten auf 655 Millionen m3, das etwa durch den Bau neuer Speicheranlagen (Gorner, Oberaletsch), den Ausbau bestehender Speicheranlagen (Gries, Moiry) oder die Nutzung neuer natürlicher Speicher, die sich infolge des Gletscherrückzugs bilden (Rhonegletscher), erreicht werden kann.

Allerdings ist die saisonale Vision der Wasserkraftspeicherung – die sich von den täglich eingesetzten Pumpspeicherwerken unterscheidet – entscheidend, um dieses Potenzial zu erreichen. Die Idee besteht darin, überschüssige Solarenergie im Sommer zu nutzen, um Wasser in die Stauanlagen zu pumpen und dort zu speichern. Die Speicher funktionieren dabei wie alpine Batterien, die bei Bedarf zugeschaltet werden können. So können die Speicheranlagen das Wasser im Winter turbinieren, wenn der Energiebedarf höher ist. Eine zusätzliche Verschiebung der Energie vom Sommer in den Winter dank dem grundlegenden Zusammenspiel von Wasserkraft und Photovoltaik ist ebenfalls wichtig.

Die Erschliessung dieses Potenzials bedingt neben grossen finanziellen Mitteln eine stabile Langfristperspektive. Allein die Planung mit den notwendigen Bewilligungen dauert fünf bis zehn Jahre, eine anschliessende Realisierung wird projektabhängig weitere fünf bis zehn Jahre in Anspruch nehmen. Zudem ist ein Teil des Potenzials vom Gletscherrückzug abhängig, der sich für die grossen Gletscher in den nächsten Jahrzehnten noch akzentuieren wird.

Wasserkraft und Umwelt: Gleichgewicht gesucht

Eines ist klar: Die Bedingungen, um das «Wasserkraftwerk Wallis», wie die Experten es nennen, zu fördern, bringen grosse Herausforderungen mit sich, wobei eine im Vordergrund steht. Die Entwicklung der Wasserkraft kann zu einem Interessenkonflikt zwischen den Zielen der Energiepolitik und den Umweltschutzzielen führen. In der Schweiz gelten sehr hohe Umweltstandards in den Bereichen Gewässerschutz, Landschaftsschutz und Biotopschutz. Sie betreffen das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung, Biotope von nationaler Bedeutung, Auen-Schutzgebiete sowie Unesco-Welterbe-Gebiete.

Weitere Elemente wie Fischgängigkeit, Geschiebehaushalt sowie Schwall und Sunk führen zu zunehmenden Konflikten bei der Nutzung der Wasserkraft in den Schutzgebieten. Die Studie blendet diese Schutzgebiete übrigens nicht aus, sondern nennt sie explizit. Was allerdings a priori verwirrend ist: Insgesamt liegen im Kanton Wallis 80 % des Winterausbaupoten­zials in Schutzgebieten (11 Standorte) und 20 % ausserhalb (8 Standorte).

Bei der Interessenabwägung von Schutz und Nutzen der Wasserkraft sind die Abläufe in der Anwendung der gesetzlichen Grundlagen (Bund, Kanton, Gemeinde) nicht klar geregelt. Dies führt meist zu langwierigen Gerichtsverfahren, was in der Vergangenheit beispielsweise beim Ausbauprojekt Grimsel der Kraftwerke Oberhasli AG im Kanton Bern beobachtet werden konnte. Die Walliser Studie versucht allerdings nicht, die scheinbar widersprüchlichen Ziele von «Schutz» und «Nutzung» zu klären. Weil aber ein Grossteil des Winterausbaupotenzials der Walliser Wasserkraft von Schutzinteressen betroffen ist, sollen mit dieser Studie die Diskussionen für eine Interessenabwägung angeregt und lanciert werden, die in einem Richtplan anhand klarer Prioritäten und Ziele, zu deren Definition die Studie beiträgt, zu formalisieren ist. Die prioritär informierten Umweltschutzverbände begrüssen übrigens das in dieser Studie vorgeschlagene Vorgehen.

Künftige Heimfälle haben strategische Bedeutung

Ein letztes Element, das für die Weiterentwicklung der Wasserkraft ebenso grundlegend ist, betrifft die Konzessionsdauern. Die Grundlagenstudie führt für jedes Einzugsgebiet die bestehenden Wasserrechtskonzessionen sowie den Zeitpunkt ihres Heimfalls auf. Der Kanton Wallis hat mit seiner Strategie Wasserkraft zudem eine Grundlage für die zukünftigen Eigentümer der Wasserkraftanlagen geschaffen. Zusammen mit der FMV agieren die Konzessionsgemeinden als Inhaber der Wasserrechte als wichtige Akteure, um letztlich das Ziel zu erreichen, dass sich 60 % der Erzeugungskapazitäten aus Wasserkraft in der Hand der Walliser Gemeinwesen befinden und gleichzeitig ein Mehrwert für den ganzen Kanton geschaffen wird. Auf dieser Grundlage kann das neue «Wasserkraftwerk Wallis» dank den Walliser Akteuren, nämlich dem Kanton und der FMV sowie den Konzessionsgemeinden und den Elek­­-trizitätsversorgungsunternehmen, optimal gestaltet werden.

Diese Akteure werden gemäss einer koordinierten Strategie mit ihren ausserkantonalen Partnern zusammenarbeiten. Um die Komplexität dieser Prozesse zu bewältigen, schlägt der Kanton in Zusammenarbeit mit der FMV in einem Vademecum ein angepasstes Vorgehen und eine abgestimmte Organisation vor. Mit diesem Ziel, dass am Ende der Heimfallagenda 60 % der Erzeugungskapazitäten in der Hand von Walliser Gemeinwesen sein sollen, können die Partner aus dem Wallis und aus der Schweiz das gesamte «Wasserkraftwerk Wallis» und dessen Optimierung als Akteur betrachten, der etwa ab 2060 dazu beitragen wird, die steigende Winternachfrage abzudecken und ein nachhaltiges Gleichgewicht in Bezug auf die Herausforderungen im Umweltschutz zu schaffen.

Energiepartnerschaften sind daher für das Wallis essenziell. Dank den historischen Unternehmen sowie anderen Akteuren, die im Kanton momentan nicht vorhanden sind, wird dieses Winterpotenzial unter der Federführung des Kompetenzzentrums FMV umgesetzt werden können. Die optimierte alpine Batterie kann so eine Schlüsselrolle in der Versorgungssicherheit der Schweiz spielen, aber auch in Europa zum wichtigen Akteur aufsteigen. Bei einer Produktion von insgesamt rund 10 TWh, die den Eigenbedarf des Kantons Wallis von 3 TWh weit übersteigt, fungiert das Wallis in Europa weiterhin als Stromexporteur. Heute ist der Kanton – mit seinen Partnern – dank seiner Strategien, Gesetze und Kompetenzen bereit. Aus diesem Grund begrüsst die FMV ein Stromabkommen mit der Europäischen Union.

Referenzen

[1]   «Energieland Wallis: Gemeinsam zu 100 % erneuerbarer und einheimischer Versorgung. Vision 2060 und Ziele 2035.», Kanton Wallis, 2019.
[2]   «Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer angemessenen Winterproduktion», ElCom, 27.  Februar 2020.
[3]   «Grundlagenstudie zum Potenzial der Wasserkraft im Wallis», abrufbar auf fmv.ch und vs.ch.
[4]   accvs.ch/d/.

Literatur

«Wasserkraftpotenzial der Schweiz – Abschätzung des Ausbaupotenzials der Wasserkraftnutzung im Rahmen der Energiestrategie 2050», BFE, 2019.
«Landschaften von nationaler Bedeutung», Bafu, 2020.
Tobias Wechsler, Manfred Stähli, «Climate change impact on Swiss hydropower production», Synthesis Report, 2019.

Autor
Stéphane Maret

Kommentare

Walter Holaus,

Wenn in ein paar Jahren der Grossteil der 4 Millionen Autos in der Schweiz elektrisch sind (mit typischerweise einer 80-kWh-Batterie) dann ergibt das eine Speicherkapazität von etwa 300 GWh – verteilt über das ganze Land. Das ist zwar noch etwas weniger als Grand Dixence hat, aber sehr gut geeignet, um alle kurzfristigen, täglichen und wöchentlichen Schwankungen auszugleichen. Die Wasserspeicher werden dann im wesentlichen nur noch als saisonale Speicher gebraucht.

Was ist die Summe aus 6 und 2?