Fachartikel Internet of Things , IT für EVU , Smart Grid

Dezentrale Potenziale nutzbar machen

Einsatz von Smart Data

29.10.2020

Dezentrale Flexibilitäten stellen ein bislang kaum genutztes Potenzial für die Netz­stabili­sierung dar. In kommu­nizie­renden Netzen lassen sich mithilfe moderner Appli­kationen auch kleine Anlagen und Speicher in grosser Zahl aggre­gieren, gruppie­ren und gezielt steuern. Dies bildet die Basis für netz­dienliche Anwen­dungen, aber auch neue Services und Geschäfts­modelle.

Die zunehmende Einspeisung stark fluktuierender, erneuerbarer Energien und die Integration neuer Lasten wie Ladesäulen für Elektro­mobilität belasten die Netz­infra­strukturen. Vor diesem Hintergrund ist das Flexi­bilitäts­mana­gement (FM) eine der vordring­lichsten Aufgaben für EVU und VNB. Mit intelligenten Systemen, die Flexibilitäten auf Basis von zeitnahen Netzlastdaten von Smart Metern steuern, lässt sich diese effizient und wirtschaftlich bewältigen. Ziel ist eine optimale Nutzung der Verteilnetz­infra­struktur durch die aktive Bewirtschaftung dezentraler Erzeuger, Lasten und Speicher.

Aus der Kombination und Analyse von Netz- und Smart-Meter-Daten lassen sich genaue Rückschlüsse auf das Systemverhalten ziehen und zuverlässige Vorhersagen über die Netzlasten ableiten. Energieverbrauch und -erzeugung sowie die Netzauslastung werden zuverlässig und mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf prognostiziert. Über die bidirektionale Kommuni­kations­infrastruktur ist zudem der direkte Zugriff auf die steigende Zahl der dezentralen Erzeugungs­anlagen und Speicher möglich, die in der Summe erhebliche Reserven für den Lastausgleich bieten.

Hoher Automatisierungsgrad

Ein Flexi­bilitäts­mana­gement auf Basis dieser Modelle lässt sich nahezu beliebig automatisieren. In der ersten Ausbaustufe folgen die Schaltvorgänge eindeutigen, im Vorfeld definierten, festen Regeln. Mittels gezielter Datenanalyse aus Netzdaten und selbstlernenden Algorithmen, die zum Beispiel eigenständig entscheiden können, wann welche Flexibilitäten aktiviert oder deaktiviert werden sollen, kann die Steuerung zukünftig dynamischer und effektiver erfolgen. Die Integration des Maschinellen Lernens ist der nächste logische Schritt und sollte bei einem FM-Projekt von Anfang an mitgedacht werden. Erste Prototypen dazu werden unter Laborbedingungen bereits mit vielversprechenden Ergebnissen erprobt.

Konvergenz der Datenströme

Was derzeit in verschiedenen Verteil­netzen entsteht, ist also zunächst einmal das Fundament: Eine sichere Konnektivität, Zugriff auf die Flexibilität und Remote Switching bilden die Grundpfeiler des Flexi­bilitäts­mana­gements. Im nächsten Schritt wird es darum gehen, ein höheres Mass an Intelligenz in das Konstrukt zu bekommen und es mit anderen Datenquellen zusammen­zuführen, um die Kapazitäten der Infrastruktur besser ausreizen zu können. Dann können VNB Investitionen gezielter planen oder auf spätere Zeiträume verlagern. Die Idee dahinter ist nicht völlig neu – wohl aber, wie sehr die diversen Datenströme ineinander­fliessen und Teilsystem­land­schaften miteinander interagieren werden. Smart Home und Smart Building verschmelzen mit den Energie- und Netzleitsystemen (z. B. Scada) sowie den Unternehmens- und Kundenmanagementsystemen (ERP, CRM): In dieser Konvergenz liegen zahlreiche neue Anwendungen und Möglichkeiten, aus dem Flexi­bilitäts­mana­gement neue Angebote, Services und Marketing- instrumente abzuleiten.

Durch Applikationen wie Grid Flex Control ändert sich die Perspektive des EVU. In der «alten Welt» lag der Fokus auf den Rundsteuer­tele­grammen und Schaltrelais der Rundsteuer­empfänger, denn danach richtete sich das Steuerungskonzept der angeschlossenen Flexibilitäten. In Grid Flex Control hingegen können sie als individuelle Objekte mit spezifischen Eigenschaften verwaltet und in ihrer Gesamtheit bewirtschaftet werden. So ist es beispiels­weise möglich, alle Wärmepumpen, Nachtspeicher, Boiler oder die Strassen­beleuchtung in einem Versorgungs­gebiet zu gruppieren, unabhängig davon, wo die einzelnen Geräte physisch angeschlossen sind. Dadurch können Flexibilitäten flexibel und dynamisch organisiert, gruppiert oder separiert werden.

Die Software dient zugleich als Aggregations­punkt für das Scada-System, über das Gruppen ferngesteuert werden. Die Informationen über vorhandene Flexibilitäten und deren beschreibende Eigenschaften können aus verschiedenen Datenquellen stammen (ERP, CRM, Installationsprozess etc.) und dienen der weiteren Gruppen­organisation der Flexibilitäten. Grid Flex Control adressiert diese dann aktiv, indem die betroffenen Feldgeräte und deren Steuerausgänge für die entsprechenden Schaltgruppen ermittelt und entsprechende Schaltbefehle über das Head-End-System sicher an die Geräte übermittelt werden. Die Rückmeldungen aus dem Feld wiederum werden in der Software aggregiert und an das Scada-System übertragen. In einem Setup für kleinere EVU ohne Scada kann aus der Software direkt auf das HES und die Feldgeräte zugegriffen werden, die für die Steuerung der Flexibilitäten zuständig sind.

Geringe Komplexität

Dieser neue Verwaltungs­ansatz verringert die Komplexität für das EVU enorm. Das grundlegende Prinzip dieser Form des Flexi­bilitäts­mana­gements ist die Vereinfachung durch Aggregation und Gruppierung. Anstelle des einzelnen Feldgerätes tritt die konsolidierte, netzdienlich nutzbare und vermarktungsfähige Ressource Flexibilität. In der technischen und betrieblichen Umsetzung ist diese Vereinfachung jedoch hoch komplex. Speziell die Anforderungen an Datenschutz und -sicherheit sollten nicht unterschätzt werden. Ein durchgängiges Security-Konzept beginnt schon in der Planung und umfasst die Produktion der Schaltgeräte und Zähler in geschützten Bereichen ebenso wie das Schlüssel- und Zertifikat-Handling sowie die Anpassung etablierter Prozesse in Bezug auf Security beim EVU. Unabhängig von der grundsätzlichen Interoperabilität und Kompatibilität der marktgängigen Hard- und Softwarelösungen liegen dabei die Vorteile einer integrierten, schlüssel­fertigen Lösung auf der Hand. Ein gemischtes Setup wird deutlich komplexer. Doch nicht nur aus diesem Grund empfiehlt sich ein ganzheitliches Konzept. Auch die rechtlichen und wirt­schaftlichen Rahmen­bedingungen des Rollouts sollten Berück­sichtigung finden.

Synergien im Rollout

Die gesetzliche Verpflichtung zum Smart-Meter-Rollout wirft grundsätzliche Fragen nach dem Geschäftsmodell und der Investitions­rentabilität auf. Über das Flexi­bilitäts­mana­gement lässt sich ein signifikanter Return des erforderlichen Kapitals erwirtschaften. Netz­kapazitäts­engpässe, die in der Vergangenheit durch kostspielige traditionelle Netzausbauten entschärft wurden, können dank Grid Flex Control verzögert oder sogar vermieden werden. Die Reduktion von Lastspitzen und die gezielte Steuerung dezentraler Einspeiser tragen zu einer Verbesserung der Spannungs­qualität bei und erlauben im Allgemeinen eine effektivere und effizientere Nutzung der Netzinfrastruktur. Basierend auf der Flexibilisierung der Energienutzung können zudem neue Tarifmodelle, ein optimierter Energiehandel und neue Dienstleistungs­modelle wie die Eigen­verbrauchs­optimierung angeboten werden. Je ganzheitlicher das Konzept angewandt wird, desto grösser sind die daraus resultierenden Synergieeffekte.

Generell sollten die Akteure anstreben, die Rollouts von Smart Metern und Lastschalt­geräten mit dem Flexi­bilitäts­mana­gement zu synchronisieren. So lassen sich anstehende Ersatz­investi­tionen in eine in die Jahre gekommene Rund­steuer­technik optimieren, indem die Verantwort­lichen gleich auf eine homogene und zukunftsfähige intelligente Infrastruktur setzen. So lassen sich Rund­steuer­systeme durch eine Kombination von Grid-Flex-Control-Applikation und Schaltgeräten wie dem L540 ersetzen. Auf diese Weise entsteht eine vollständig und durchgängig integrierte Lösung mit identischem Applikations- und Kommuni­kations­protokoll, einheitlichem Sicherheits­konzept und hoher Effizienz beim Rollout durch den zeitgleichen Austausch von Zählern und Rundsteuer­empfängern. Für EVU verbessert sich zugleich das Kosten-Nutzen-Verhältnis ihrer AMI-Investitionen durch die Mehrfach­nutzung derselben System­landschaft.

Als offenes Konzept bietet der beschriebene Ansatz zudem Raum für zukünftige Erweite­rungen mit Wertschöp­fungs­potenzial, darunter auch vielver­sprechende Optionen im Bereich Smart Home. Noch stecken die entsprechenden Anwen­dungen in den Kinderschuhen. Aber bereits heute ist es möglich, den Fokus nicht nur auf Verteilnetzkomponenten wie Trafostation und Leitungen zu legen, sondern auch auf Gebäude und Eigen­verbrauchs­gemein­schaften, um dort gezielt Schalt­handlungen auszuführen – beispielsweise um selbst produzierten Strom möglichst lokal zu verwenden und diesen nicht unnötig ins Netz zurück­zuspeisen. Damit kann Grid Flex Control bei überschau­barem technischem Aufwand nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Energiewende leisten, sondern auch das Tor zu neuen, end­kunden­bezogenen Mehrwert­leistungen aufstossen.

Autor
Laurent Bruderer

ist Product Manager Load and Flexibility Management.

  • Landis+Gyr AG, 6300 Zug

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