Den Netzbetrieb mit Modellen optimieren
State Estimation und Optimal Power Flow OPF
BKW Power Grid hat in den Aufbau einer präzisen State Estimation sowie weiterer netzberechnungsbasierter Funktionen investiert. Der Weg zu einem stabilen und zuverlässigen Modell war anspruchsvoll, zeigt jedoch, wie wirkungsvoll diese Modelle im Netzbetrieb eingesetzt werden können – und welche neuen Perspektiven sie eröffnen.
Bereits seit Jahren investiert BKW Power Grid in netzberechnungsbasierte Funktionen. Das State-Estimation-Modell wurde zunächst auf der Übertragungs- und Verteilnetzebene eingeführt. Erste Arbeiten begannen um 2006, als BKW Power Grid – damals noch Übertragungsnetzbetreiber – begann, sämtliche Leitungen mit elektrotechnischen Parametern zu hinterlegen, Transformatoren und deren Stufensteller zu modellieren sowie die Charakteristiken der Wasserkraftwerke und Generatoren abzubilden. Die ersten Ergebnisse waren ernüchternd: Das Modell konvergierte nicht oder nur mit grossen Toleranzen. Über mehrere Jahre hinweg wurden daher Mess- und Verknüpfungsfehler korrigiert, Leitungsparameter nachgemessen und Transformatoren anhand bestehender Prüfprotokolle neu modelliert. Diese Arbeit führte schliesslich zu einem hochpräzisen und verlässlichen Hochspannungsmodell.
Der nächste Schritt war die Integration des gesamten Mittelspannungsnetzes. Dies war deutlich komplexer – die Anzahl der Knoten stieg von rund 400 (HS) auf über 18’000 (HS+MS) – gleichzeitig jedoch transparenter, da das Mittelspannungsnetz nur gering vermascht ist. Die zentrale Herausforderung bestand im Import der Modelldaten aus dem Geoinformationssystem (GIS). Aufgrund der grossen Datenmenge war eine manuelle Erfassung nicht praktikabel. Da die Modellierungen im Scada- und GIS-System stark voneinander abwichen, entwickelte BKW Power Grid ein internes Matching-Tool.
Eine weitere Schwierigkeit war die fehlende Messinfrastruktur im Mittelspannungsnetz. Verfügbar waren lediglich Messungen an den MS-Abgängen der HS/MS-Stationen. Um dennoch eine Zustandsschätzung durchführen zu können, wurden sogenannte Pseudo-Messungen eingeführt: Trafostationen erhielten repräsentative tägliche Lastgangkurven, die auf einer mehrjährigen Messkampagne an über 80 Trafostationen basierten. So konnte das Verbrauchsverhalten der Stationen realitätsnah abgebildet werden (Bild 1).
Die dritte Herausforderung war die Modellierung dezentraler Einspeisungen. Aufgrund des starken Zuwachses von PV-Anlagen musste deren Verhalten berücksichtigt werden. Grössere PV-Anlagen (> 500 kW) wurden an das Scada-System angebunden, sodass ihre tatsächliche Einspeiseleistung in Echtzeit erfasst und prozentual auf kleinere Anlagen übertragen werden konnte. Dadurch entstand ein umfassender Echtzeitüberblick über alle dezentralen Einspeiser im Verteilnetz – sowohl im Betrieb als auch in Simulationen (Bild 2).
OPF zur Kontrolle der Blindleistungskosten im Verteilnetz
Optimal Power Flow (OPF) ist eine Standardfunktion moderner Netzleitsysteme. Während klassische Lösungen auf die Minimierung von Netzverlusten abzielen, entwickelte BKW Power Grid eine eigene Variante, die primär die Gesamtkosten des Netzes reduziert. Dazu zählen Kosten für Netzverluste, Blindleistungsaustausch und Blindleistungserzeugung der Generatoren.
Besonders relevant ist dies im Kontext des komplexen Spannungshaltungskonzepts von Swissgrid (2020), das eine ständige Überwachung erfordert. Während andere Tools lediglich die Kosten der Teilnahme an der Spannungshaltung im Übertragungsnetz optimieren, berücksichtigt die Lösung von BKW Power Grid auch die wesentlich höheren Kosten der Netzverluste – und erzielt damit deutlich bessere Ergebnisse.
Das OPF liefert minütlich Optimierungsergebnisse. Eine direkte Umsetzung in dieser Frequenz wäre jedoch unpraktisch und würde die Betriebsmittel (Stufenschalter) zu oft einsetzen. Daher wurde ein Skript entwickelt, das relevante Ergebnisse auswählt und automatisch auf Transformatoren und Generatoren überträgt. So wird eine optimale Balance zwischen Kostenreduktion und Systemstabilität erreicht.
Asynchroner Trafobetrieb
Im Zuge der Netzoptimierung untersuchte BKW Power Grid den asynchronen Betrieb von Kuppeltransformatoren zwischen Übertragungs- und Verteilnetz. Während Transformatoren bisher synchron – mit identischem Übersetzungsverhältnis – betrieben wurden, ermöglicht der asynchrone Betrieb abweichende Stufenstellungen und damit Vorteile wie:
- feinere Spannungsregelung,
- flexibleren Blindleistungsaustausch,
- reduzierte Betriebskosten,
- verbesserte Blindleistungsbilanz.
Demgegenüber stehen potenzielle Nachteile wie zusätzliche Verluste und eine Erwärmung, die wiederum eine schnellere Alterung durch induktive Kreisströme zur Folge haben kann. Nach nötigen Softwareanpassungen konnte das Optimal Power Flow auch den asynchronen Betrieb einbeziehen und so ein Kostenoptimum berechnen.
Pilotprojekt
Ein Pilotprojekt mit den 220/132-kV-Transformatoren in Mühleberg kombinierte Lastflusssimulationen mit praktischen Tests (Bild 3). Zusätzliche Temperatursensoren bestätigten zwar leichte Temperaturanstiege, jedoch ohne kritische Werte. Die Stufendifferenz wurde auf zwei Stufen begrenzt (rund 20 Mvar Kreislauf je Stufe). Dies ermöglichte einen wirksamen Ausgleich von 1,5 – 4 Mvar. Das OPF integrierte diese Effekte in seine laufende Optimierung und setzte die entsprechenden Stufen automatisch.
Ergebnisse (Juni bis August 2024, Bild 4):
- 70% der Zeit keine Stufendifferenz,
- 16% eine Stufendifferenz,
- 14% zwei Stufendifferenzen.
Die Blindleistungsrechnung konnte um rund 2,25% bzw. 6500 CHF pro Monat reduziert werden. Die zusätzlichen Verluste von 30–60 kW waren thermisch und wirtschaftlich vernachlässigbar.
Der asynchrone Betrieb der Transformatoren ist eine ergänzende Massnahme zum bei BKW Power Grid eingesetzten OPF-System. Er ermöglicht eine Optimierung der Nutzung der bestehenden Infrastruktur und trägt gleichzeitig zur Senkung der Spannungs- und Blindleistungskosten bei. Derzeit werden weitere Anwendungen im Netz geprüft, um diese Betriebsart auszuweiten und mehr Ausspeisepunkte mit dem asynchronen Betrieb betreiben zu können.
Ausblick auf zukünftige Möglichkeiten
Die Netzmodelle von BKW Power Grid werden künftig noch bedeutendere Aufgaben übernehmen. Da das Mittelspannungsnetz weitgehend ungemessen ist, wird die Notfallsteuerung auf der State Estimation basieren. Überlastungen und Spannungsverletzungen können so erkannt und durch gezielte Eingriffe bei steuerbaren Anlagen (PV, Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur, Batterien) beseitigt werden. Ab 2026 soll dieses Softwaremodul den Netzbetrieb aktiv unterstützen.
Parallel wird die Modellgenauigkeit weiter verbessert: Während heute generelle Lastgangkurven verwendet werden, ermöglichen Smart Meter künftig die Aggregation von Messungen auf Trafokreisebene. Dies schafft präzisere Lastprofile und erhöht die Verlässlichkeit der Modelle erheblich.
Fazit
Die kontinuierliche Weiterentwicklung von State Estimation und Optimal Power Flow (OPF) ist ein zentraler Baustein der Modernisierung des Netzbetriebs bei BKW Power Grid. Aus anfänglich fehleranfälligen Modellen entstand ein hochpräzises Abbild des Übertragungs- und Verteilnetzes. Mit Pseudo-Messungen, der Abbildung dezentraler Einspeiser und innovativen OPF-Strategien wurde ein umfassender Echtzeitüberblick geschaffen und die Kostenstruktur optimiert.
Der erfolgreiche Pilot zum asynchronen Transformatorbetrieb zeigt zudem, wie neue Betriebsweisen zusätzliches Potenzial für Effizienzgewinne und Flexibilität erschliessen.
Damit bilden die eingesetzten mathematischen Modelle nicht nur die Grundlage für den aktuellen Betrieb, sondern auch für künftige Notfallsteuerungen und ein leistungsfähiges Einspeise- und Lastmanagement im Zuge der Energiewende.