Fachartikel Energiemarkt

Datenanalyse offenbart neue Marktpotenziale

Markt-Know-how

26.04.2022

Die Ergebnisse sind nicht unerwartet: Trotz gestützter Abfrage kennen 22% der Schweizer ihren aktuellen Stromanbieter nicht. Sogar jeder Zweite fühlt sich zu dessen Leistungen nicht gut informiert. Dabei bietet der Privatkundenbereich bereits heute viel Potenzial für Zusatzgeschäfte. Die Grundlagen für eine effiziente, differenzierte B2C-Marktbearbeitung sind vorhanden.

Eine professionelle und aktive Marktbearbeitung im Privatkundenbereich steht bei vielen Schweizer Energieversorgungsunternehmen nicht auf der Prioritäten-Liste. Sie zahlt sich aber aus, denn auch wenn die Liberalisierung im Privatkundengeschäft weiter auf sich warten lässt, bieten Zukunftsbereiche wie Solar, Wärmepumpen und E-Mobilität grosse Potenziale. Zudem sichert eine starke EVU-Marke langfristig Geschäft und Kundenbeziehungen.

Eine wichtige Grundlage der Marktbearbeitung sind aussagekräftige Geo- und Konsumentendaten. Doch in aller Regel verfügen Energieversorger über entsprechende Informationen höchstens für ihr eigenes Versorgungsgebiet beziehungsweise für einen Teil ihrer privaten Stromkunden. Aus diesem Grund haben das Schweizer Marktforschungsinstitut Link und die Data-Science-Spezialisten von Novalytica gemeinsam den EVU-Marktatlas-B2C konzipiert und 2022 erstmals umgesetzt. Das Studienkonzept basiert auf Expertengesprächen und Fachinput aus der Branche, berücksichtigt Befragungs- und öffentlich zugängliche Sekundärdaten und bietet auf dieser Grundlage mikro-geografische Analysemöglichkeiten für mehr Markttransparenz, Kundennähe und Marketing-Effizienz. Die Ergebnisse zeichnen schweizweit ein Bild mit vielen Opportunitäten.

Methodischer Ansatz des EVU-Marktatlas 2022

Die Studie basiert auf der Hochrechnung einer umfangreichen Primärdatenerhebung auf die gesamte Schweiz. Damit sind im Wesentlichen folgende zwei Datenquellen von Relevanz:

Einerseits führte Link im vierten Quartal 2021 eine Befragung bei über 10'000 Privatkunden in der Schweiz im Alter zwischen 18 und 79 Jahren durch, die auf Basis von Region, Alter und Geschlecht quotiert wurde und deren Stichprobe damit an der Bevölkerungsverteilung gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) ausgerichtet ist. Thematisch wurden unter anderem folgende Aspekte abgefragt:

  • Bekanntheit des aktuellen Energieversorgers,
  • allgemeine Einstellungen zum Thema Energie,
  • Energieprodukte vor Ort und Interesse an Energieprodukten in Zukunft (unter anderem Solarenergie, Wärmepumpen, Wallboxes für Elektrofahrzeuge),
  • Markenbekanntheit und -bewertung bezogen auf 29 EVUs und
  • Demografie und Haushalts-Informationen.


Auf der anderen Seite kombinierte Novalytica eine Vielzahl öffentlich verfügbarer Geodaten. Neben Daten des Bundesamtes für Statistik sowie aus dem Gebäuderegister, dem Handelsregister oder kantonalen Geoportalen umfasst dies auch online erfasste Quellen wie Immobilieninserate. Neben Datenpunkten zur Wohnsituation (beispielsweise Gebäudetyp, Baujahr, Renovationen, Preis-/Miet­niveau, Grösse), welche bei Fragen rund um Energie zentral sind und gleichzeitig einiges über die Haushalte preisgeben, sind auch Datenpunkte zur Soziodemografie (zum Beispiel Alter, Haushaltsgrösse, Anteil Nicht-Schweizer) auf Ebene Hektar vorhanden. Die aus diesen Quellen kombinierten Daten werden aufbereitet und können so jeder Strasse und Adresse zugeordnet werden.

Die Ergebnisse der Privatkundenbefragung wurden anschliessend mit den Geodaten verbunden. Mittels der Machine-Learning-basierten Modellierung Gradient Boosting werden die Survey-Antworten auf Gemeinde- und Hektarebene hochgerechnet. Das Modell ermittelt Zusammenhänge zwischen den einzelnen Variablen und erstellt basierend darauf eine Schätzung. Korrelieren beispielsweise die durchschnittliche Haushaltsgrösse oder der Anteil Einfamilienhäuser mit der Wechselwahrscheinlichkeit, wird dies vom Modell berücksichtigt. Zur Illustration des Vorgehens zeigt das obenstehende Bild beispielhaft das Resultat eines Modells für die Schätzung der Wechselbereitschaft privater Stromkunden aggregiert auf Ebene Gemeinde.

Qualitätsaspekte bei der Befragung

Die gut 10'000 Interviews wurden online über das Link-Panel durchgeführt. Da sich ausschliesslich aktiv rekrutierte Schweizer Verbraucher in diesem Panel befinden, die im Rahmen telefonischer Repräsentativstudien dazu eingeladen wurden, erfüllt es in besonderem Masse geltende Qualitätsanforderungen aus Forschungstheorie und -praxis, die vor allem eine zufallsbasierte Zusammensetzung der Stichprobengrundlage in den Fokus stellen. Gemäss wissenschaftlichen Studien erreichen solche wahrscheinlichkeitsbasierten Panels eine bessere Ergebnisvalidität, unter anderem weil regelmässige wie auch unregelmässige Internetnutzer die gleiche Chance haben, befragt zu werden. Schliesslich wurde die Stichprobenqualität über ein kurz gehaltenes Interview und eine Gewichtung gemäss BFS-Bevölkerungsstruktur soweit möglich maximiert.

Qualität bei öffentlichen Daten und der Modellierung

Ein wesentlicher Teil der genutzten Sekundärdaten stammt aus offiziellen Quellen wie dem BFS, was eine hohe Datenqualität sicherstellt. Der dabei nicht zu vermeidende Time-Lag (verschiedene Datenquellen sind beispielsweise derzeit nur per Stand Ende 2019 verfügbar) dürfte angesichts der sich in Immobilienbestand und Bevölkerung vergleichsweise langsamen entfaltenden Veränderungen über die Zeit hinweg die Aussagen nicht wesentlich beeinflussen. Zudem wurden aktuelle Online-Quellen genutzt und im Hintergrund automatisch aktualisiert, um gleichzeitig eine maximale Abdeckung und eine bestmögliche Datenaktualität zu garantieren.

Befragungs- und öffentliche Datenquellen wurden, wenn möglich, über die genaue Hausnummer verbunden, ansonsten mit Durchschnittswerten für die Strasse. Nur Observationen mit Strassenangabe flossen in die Modellierung ein. Nach dem gängigen Vorgehen bei der Entwicklung von Machine-Learning-Modellen wurden sogenannte Test-Stichproben gebildet, welche zur Qualitätsprüfung eines Modells verwendet werden und verhindern, dass ein Modell nur innerhalb der Stichprobe gute Resultate liefert. Dieser Prozess wurde aus Qualitätsgründen mehrmals durchlaufen.

Analysemöglichkeiten im EVU-Marktatlas 2022

Die Ergebnisse werden in einem selbst und einfach zu bedienenden Datenportal zur Verfügung gestellt, das online im Browser, also ohne eine lokale Installation, abrufbar ist. Dieses Datenportal ist in fünf Bereiche eingeteilt:

  • Präferenzen, Potenzial und Informationsstand,
  • Kundenbeziehung,
  • Brand Performance,
  • Gemeinde: modelliertes Potenzial, Wechselaffinität und Markenbekanntheit sowie
  • Hektar: modelliertes Potenzial, Wechselaffinität und Markenbekanntheit.

Die ersten drei genannten Bereiche ermöglichen Zugriff auf die Befragungsergebnisse der gut 10'000 Privatkunden-Interviews. Die interessierenden Themen, wie beispielsweise Wechselaffinität, Kundenzufriedenheit, Interesse an Wallboxes oder Mehrzahlungsbereitschaft für regionalen Strom lassen sich im Total für die gesamte Schweiz, gesplittet nach vordefinierten Teilgruppen, wie etwa nach Kanton, Sprachregion, Alter oder Geschlecht sowie auf Wunsch gefiltert darstellen. Im Bereich «Brand Performance» wird ausserdem ein übersichtlicher Vergleich der Markenperformance der 29 grössten Schweizer EVUs dargestellt (Bild unten). So sind landesweite sowie regional eingegrenzte Benchmarking-Analysen möglich.

In den Bereichen «Gemeinde» und «Hektar» sind die hochgerechneten, modellierten Detailergebnisse einsehbar, wobei flexibel auf einzelne Gemeinden, Versorgungsgebiete, Subregionen und Städte fokussiert werden kann.

Key Insight 1: Mittlere bis hohe Wechselaffinität im Markt

Da die bei Privatkunden abgefragte Wechselbereitschaft des Stromanbieters im Moment hypothetisch ist, wurden im Rahmen der Studie verschiedene Indikatoren zur Validierung der Wechselaffinität erhoben und bei der Analyse berücksichtigt. Konkret wurde das tatsächliche Wechselverhalten der Kunden in Bezug auf ihre Krankenkasse, ihren Mobilfunkanbieter oder ihre Motorfahrzeugversicherung abgefragt. Diese Informationen in Kombination ergeben ein schlüssiges Bild zum zu erwartenden Wechselverhalten im Falle einer Liberalisierung.

Die Ergebnisse zeigen, dass schweizweit 11% der Befragten eine hohe hypothetische Wechselwahrscheinlichkeit äussern, weitere 50% allerdings eine mittelhohe. Eigentümer und Haus-Bewohner sowie jüngere Personen sind demnach besonders wechselaffin. 39% der Befragten äussern eine geringe hypothetische Wechselbereitschaft. Die Validierungsfragen unterstreichen dieses Ergebnis, da 27% in den letzten fünf Jahren mindestens einmal einen Sachversicherer gewechselt haben, 31% ihren Internetanbieter und 28% ihre Krankenkasse.

Zudem liegt der NPS (Net Promoter Score, Bild unten) des aktuellen Stromanbieters im Vergleich zu anderen Sektoren mit -12 schweizweit auf einem relativ niedrigen Niveau.1) Demnach würden nur relativ wenige ihr aktuelles EVU Freunden und Bekannten weiterempfehlen, es gibt deutlich mehr Detraktoren als Promotoren am Markt. Der Branchenvergleich belegt, mit welchem relativ niedrigen Score das aktuelle EVU abschneidet. Zu diesen Ergebnissen passt auch, dass trotz interaktiver Antwortliste gut jeder Fünfte sein aktuelles EVU nicht kennt respektive dass sich jeder Zweite (eher) nicht gut über Dienstleistungen und Produkte des eigenen Stromversorgers informiert fühlt.

Key Insight 2: Marktpotenziale für Zusatzgeschäft existieren

Wenn sich je rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung offen dafür zeigt, für grünen, regionalen sowie Schweizer Strom mehr zu bezahlen, scheinen die Marktpotenziale dafür durchaus vorhanden. Selbst wenn ein Teil dieser Aufpreisbereitschaft nur verbalisiert sein mag und die Höhe der Zahlungshbereitschaft im Rahmen der Studie nicht untersucht wurde, zeigen die Ergebnisse deutlich, dass am Markt ein nennenswerter Bedarf nach entsprechenden Tarif- beziehungsweise Produktangeboten besteht.

Auch im Bereich der Gebäudetechnik sind grosse Potenziale vorhanden. Knapp die Hälfte der Hauseigentümer gibt an, dass sie mit hoher oder sehr hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten fünf Jahren eine Solaranlage einbauen werden (oder bereits eine haben). 45% sehen den Kauf oder Ersatz eines Heizstabboilers vor, 52% den Kauf oder Ersatz einer Wärmepumpe.

Key Insight 3: Differenziertes Marketing verspricht Erfolg

Die mikro-geografische Analyse erlaubt im Rahmen der Studie Hochrechnungen bis auf Stufe Hektar, Gemeinde oder Versorgungsgebiet. Die entsprechenden Analysen zu Wechselbereitschaft, Marktpotenzialen für Energieprodukte oder Markenbekanntheit zeigen, dass es zwar klare regionale Unterschiede gibt, dass sich diese in der Regel aber nicht homogen über Versorgungsgebiete oder Gemeinden verteilen. Bei der Bewerbung gewisser Leistungen wie beispielsweise Wärmepumpen oder Photovoltaik ist es demnach sinnvoll, eine differenzierte Marketing- und Vertriebsstrategie umzusetzen, um sich auf besonders erfolgversprechende regionale Zielgruppen zu konzentrieren. Dies verspricht mehr Effektivität und Effizienz. Das obenstehende Bild zeigt eine Beispielauswertung in Form einer regionalen Hektaranalyse für die Stadt Bern für das Marktpotenzial für Premium-Stromprodukte.

1) Der Net Promoter Score spiegelt die Weiterempfehlungsbereitschaft bezogen auf eine Marke, ein Produkt oder Unternehmen wider. Je höher der Wert, desto mehr Promotoren gibt es, die beispielsweise das Unternehmen aktiv weiterempfehlen würden, respektive desto weniger Detraktoren gibt es, die das Unternehmen nicht aktiv weiterempfehlen würden.
Autor
Stefan Reiser

ist Mitglied der Geschäftsleitung und Managing Director für Marketingforschung bei Link Marketing Services AG.

  • Link Marketing Services AG, 8048 Zürich
Autor
David Sanchez

ist Director für Energiemarktforschung bei Link Marketing Services AG.

  • Link Marketing Services AG, 8048 Zürich
Autor
Dr. Thomas Spycher

ist Partner bei Novalytica.

  • Novalytica AG, 3011 Bern

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