Das Tessiner Netz wird schlanker und robuster
Infrastruktur
Könnte man das ganze Stromnetz im Tessin heute neu bauen, würde es sich deutlich vom historisch gewachsenen unterscheiden. Aber auch eine Optimierung des bestehenden Netzes führt zu einer Vereinfachung der Netzebenen und Unterwerke und bietet zugleich eine höhere Versorgungsqualität, so das Resultat einer Zielnetzplanung der Azienda Elettrica Ticinese.
Das Tessin ist mit über 1,5 GW schweizweit der drittgrösste Produzent von Strom aus Wasserkraft. Das Tessiner Stromnetz übernimmt dabei zwei wichtige Rollen: den Abtransport der durch die Wasserkraft erzeugten Elektrizität – der kantonale Verbrauch beträgt etwa einen Drittel davon – und den Transit der Energie vom Mittelland nach Norditalien. Dass das Netz sanierungsbedürftig ist, sieht man im Tessin als Chance: In Zusammenarbeit mit Swissgrid, den SBB und dem Kanton Tessin, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Bundesprojekte von Alptransit und Astra, will man die Übertragungskapazität und die Versorgungssicherheit erhöhen und bewohnte Gebiete entlasten.
Bei dieser Erneuerung der Netzebenen 3 und 5 der Azienda Elettrica Ticinese (AET) und der Planung der Investitionen für die kommenden 30 Jahre ist die Zielnetzplanung das Referenzinstrument. Durch sie will der Tessiner Stromversorger die Qualität und die Versorgungssicherheit erhöhen, die Investitions- und Unterhaltskosten dank gezielter Eingriffe auf den Netzebenen 3 und 5 reduzieren und die Auswirkungen von Freileitungen und Unterwerken auf das Territorium durch das Zusammenlegen von Trassen und dem Verkürzen von Strecken minimieren.
Analyse als erster Schritt
Am Anfang des Projekts stand eine Analyse der Transformations- und Verteilanlagen der Netzebenen 2 bis 5. Dabei ging man vom Basisszenario der heutigen Produktionsentnahmestellen und der Projektion auf den Zeithorizont 2050 aus. Die geschätzte Erhöhung des Stromverbrauchs aus den Szenarien des Bundesamts für Energie und die zukünftige Produktion aus Wasserkraft und den erneuerbaren Energiequellen wurden ebenfalls berücksichtigt.
Zahlreiche Projekte, die die Netzebenen 1 – das Swissgrid-Netz – bis 3 im Tessin betreffen, sind derzeit in Arbeit oder in Planung und erfordern Anpassungen im Netz. Auf der Produktionsseite wurde kürzlich der Windpark
St. Gotthard fertiggestellt, der mit 12 MW in die Netzebene 5 im Unterwerk Lucendro einspeist. Ausserdem schreiten die Bauarbeiten für das neue, in der Leventina gelegene Ritom-Kraftwerk (120 MW Turbinierung und 60 MW Pumpleistung) voran.
Zusätzliche Projekte sind in der Leventina geplant, wo die Stromproduktion rund 300 MW beträgt, die in dichter besiedelte südliche Regionen übertragen werden muss: Die Verstärkung der 50-kV-Leitung Lucendro- Piottino und des 50/16-kV-Unterwerks Stalvedro, die Erweiterung der 220/50-kV-Transformierung im Unterwerk Airolo und der 150/50-kV-Transformierung im Unterwerk Piottino. Die in der Variante Leventina 14 vorgesehenen neuen Leitungen von Swissgrid, SBB und AET werden ebenfalls gebaut.
Der SBB-Konverter und das 150-kV-Unterwerk in Giubiasco werden abgebaut, um Platz für ein neues Swissgrid / SBB 220/132-kV-Unterwerk und einen neuen Konverter in Biasca zu schaffen.
Eine grosse Herausforderung stellen zurzeit die Blenio- und Maggia-Kraftwerke dar, bei denen die Leitungen in den 1950er-Jahren aus Kostengründen unterdimensioniert gebaut wurden. Im Sommer ist die Leitung auf 30% begrenzt, weil die Bodenabstände bei den Vögeli-Masten sonst nicht eingehalten werden können. 500 MW sind somit im Sommer blockiert. Auch hier besteht Handlungsbedarf.
Grundsätzlich ist heute ein passender Zeitpunkt für das Projekt der Netzoptimierung, denn diverse Unterwerke erreichen nun das Ende ihrer Lebensdauer von 40 Jahren.
Mehrere Ziele
Die Zielnetzplanung verfolgt sowohl technische als auch wirtschaftliche Ziele. Auf der technischen Ebene geht es um die Optimierung des Netzes bezüglich Produktions- und Abnahmepunkte und der zukünftigen Entwicklung mit der Reduzierung der Anzahl Spannungsebenen. Dies kann durch eine sorgfältige Analyse des Kosten/Nutzen-Verhältnisses der Investitionen in die Netzebenen 3 und 5 erreicht werden. Die Einhaltung der maximalen Leistung, die Vermeidung von Überlastungen des Netzes und das Sicherheitskriterium «n-1» müssen ebenso gewährleistet sein wie eine Minimierung der Netzverluste.
Auf der wirtschaftlichen Seite werden durch die Optimierung der Anschlusspunkte zum Übertragungsnetz der Swissgrid, das im Tessin sehr robust ist, und durch die bessere Nutzung der Produktion der eigenen Anlagen auf NE3 und NE5 die von Swissgrid stammenden Kosten reduziert. Langfristig, mit einem Zeithorizont 2050, sollen die Kosten des regulierten Netzes bei gleichzeitiger Garantie der Versorgungsqualität optimiert werden.
Umsetzung
Die bisher durchgeführten Studien umfassten die drei Tessiner Regionen Nord-West, Nord-Ost und Süd. Die in Betracht gezogenen 75 Varianten wurden unter topologischen, technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten analysiert. Die Umsetzung dieser Ergebnisse wird es ermöglichen, viele der gesetzten Ziele zu erreichen.
In der Gotthard-Region werden die Spannungsebenen, die unterschiedlichen Eigentümern gehören, von sechs auf vier reduziert. Die Spannungsebenen 50 kV und 8 kV fallen weg, es bleiben die Spannungsebenen 220 kV, 132 kV, 16 kV und 400 V. Möglich machen dies die Synergien, die dank der Präsenz von drei wichtigen Projekten in der Region aktiviert werden konnten: dem Gotthard-Windpark, der zweiten Autobahntunnel-Röhre und dem Neubau des Kraftwerks Ritom. Viele Freileitungen der Netzebene 5 werden dabei verkabelt und zwei 50/16-kV-Trafos entfernt.
Durch die Kombination von zwei Projekten – den Anschlüssen der Neat-Baustellen in Faido, Bodio und Biasca und den definitiven Neat-Anschlüssen in Faido und Bodio – konnte die gesamte Versorgung im Leventina-Tal komplett erneuert und verbessert werden. Die Spannungsebenen werden von ursprünglich fünf bis zirka 2050 auf drei Ebenen reduziert. Die Zielnetzplanung hat es möglich gemacht, fünf 50/16-kV-Unterwerke in einem Umkreis von 10 km in der Region Biasca und einer Energiedichte von weniger als 25 MVA auf drei Unterwerke zu reduzieren. Notringeinspeisungen auf NE5 sind aber nötig.
Schliesslich konnte in der Region Bellinzona, wo es in einem Umkreis von 10 km sechs 50/16-kV-Unterwerke mit einer Leistung von 60 MVA gab, die Anzahl Unterwerke auf vier verringert werden. Zudem wurde durch die Zielnetzplanung ein topologischer Fehler bei einer Kehrichtverbrennungsanlage (18 MW), die an Netzebene 5 angeschlossen war, behoben. Sie hat bei Unwettern viele Probleme im Netz verursacht. Nun ist die Anlage an Netzebene 3 angeschlossen und der Betrieb ist viel robuster.
Schlussfolgerungen
Die Zielnetzplanung zeigt, wie durch verstärkte Netzinteraktionen/Netzverbindungen zwischen NE1, NE3 und NE5 die Gesamtnetzkosten reduziert werden können, ohne die Versorgungsqualität und Sicherheit bezüglich «n» und «n-1» zu beeinträchtigen. Dies im Gegensatz zum «Cost-Plus-Modell», das keine Anreize für Netzkostensenkungen bietet, weil zusätzliche Investitionen mit dem WACC honoriert werden.
Die Sunshine-Anreizregulierung würde stärkere Anreize für die Entfaltung von Synergien zwischen den einzelnen Netzbetreibern und die Reduktion von Doppelspurigkeiten setzen.
Die Zusammenlegung der Briefmarken auf der NE5 sowie auf der NE3 ermöglicht die Optimierung der Investitionen, die Reduzierung der Preisdifferenzen zwischen den Gemeinden und die Nutzung der Wasser- und PV-Produktion in NE5/NE7 ohne erneute Lieferung von Energie an NE1.
Was es zu beachten gilt
Die mit der Zielnetzplanung von AET gemachten Erfahrungen zeigen, dass es sich lohnt, die langfristigen Varianten zu untersuchen, die über die einfache Lösung von Einzelproblemen hinausgehen. Betrachtet man die Investitionen unter dem Gesichtspunkt des Endzwecks, so zeigt sich, dass das gesamte Netzprojekt am Schluss preisgünstiger sein kann, auch wenn einzelne Etappen mehr kosten.
Der Bau möglichst kurzer Leitungen – eventuell unter Einbezug neuer Umspannwerke – und die Standardisierung von Leitstellenaufbau und -betrieb ermöglichen Einsparungen und helfen, Fehler und Nebenkettenreaktionen zu reduzieren.
Die Zusammenarbeit mit Dritten, auch von ausserhalb des Energiesektors, sowie eine Kooperation auf überregionaler Ebene sind sinnvoll und notwendig, da immer mehr Projekte miteinander verbunden sind und mehr Akteure betreffen, besonders, wenn sich Projekte über Jahrzehnte erstrecken. Zudem kann die Lösung eines Problems auf regionaler Ebene auch dem nationalen Netz dienen.
Die Kooperation der Netzebenen 1 und 3 bei der Erneuerung oder dem Neubau von Wasserkraftwerken ist nötig, um die maximale Flexibilität der Kraftwerke zu gewährleisten.
Die Entwicklung des Stromverbrauchs und die des Neubaus von Photovoltaikanlagen muss im Detail studiert werden. Der Kanton Tessin plant einen Ausbau des Solarstroms auf 400 MW bis 2050, was für das Netz eine grosse Herausforderung darstellen würde. Wenn man bedenkt, dass man heute im Tessin an Arbeitstagen Spitzenlasten von 500 MW hat, sieht man, dass der Solarstrom netzrelevant sein wird.
Das Netz der Zukunft
Das Netz stösst zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen, daher sind Online-Lösungen erforderlich, die nicht nur die Bedürfnisse der Netzbetreiber, sondern auch die der Kraftwerkbetreiber berücksichtigen.
Meteorologische Ereignisse werden immer extremer, auch in Jahreszeiten, die bisher von ihnen verschont geblieben sind. Simulationen von Verbrauch und Produktion auf zwei bis drei Tage im Voraus sind deshalb wünschenswert. Die Konzepte der saisonalen Netzwartungsarbeiten und des Informationsaustauschs über den Stand der Arbeiten mit den Kraftwerkbetreibern müssen neu überdacht werden.
Das Ziel des Projekts war, die Freileitungstrasse um 40% zu reduzieren. Gleichzeitig verdreifacht man mit der gewählten Lösung die Übertragungskapazität. Allfällige PV-Überschüsse können nach Norden und nach Süden übertragen werden. Gründe, die die 500 Mio. CHF rechtfertigen, die das Projekt insgesamt kosten soll, denn man profitiert künftig von der vollen Flexibilität der Kraftwerke.
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