Fachartikel Konventionelle Kraftwerke

«Das Projekt Stilllegung ist endlich»

Kernkraftwerk Mühleberg

11.12.2019

Am 20. Dezember 2019 ereignet sich in Mühleberg Historisches. 47 Jahre nach seiner Inbetriebnahme geht das Kernkraftwerk vom Netz. Bis zur ursprünglichen «Grünen Wiese» ist es allerdings noch ein langer Weg.

Am 6. November 1972 nahm das Kernkraftwerk Mühleberg KKM nach fünfjähriger Bauzeit seinen Betrieb auf. Nun, 47 Jahre später, wird das Werk abgeschaltet. Fortan verfügt die Schweiz nur noch über vier Kernkraftwerke (Beznau I und II, Gösgen sowie Leibstadt). Die Betreiberin BKW hat das Aus des Kraftwerks im Oktober 2013 beschlossen, und zwar aus unternehmerischen Gründen. Zu diskutieren, ob diese Stilllegung nun bereits als Umsetzung der erst 2017 beschlossenen Energiestrategie 2050 vereinnahmt werden darf oder nicht, ist müssig. Denn Fakt ist, dass am 20. Dezember 2019 der schrittweise Ausstieg aus der Kernenergie beginnt. Die Gründe für die Abschaltung eines Kernkraftwerks spielen dabei eine untergeordnete Rolle.

Erlaubnis zum Abschalten

Nun ist die Stilllegung eines Kernkraftwerks ein nicht ganz triviales Vorhaben. Mit Schalter drehen, Licht löschen und der Letzte macht die Türe zu ist es nicht getan. Damit die BKW das Werk überhaupt stilllegen darf, brauchte sie erst eine entsprechende Stilllegungsverfügung des Bundes. Diese regelt zusammengefasst, was wann wie demontiert, dekontaminiert, verpackt und anschliessend wohin transportiert wird. Neben dem Umstand, dass ein Kernkraftwerk radio­aktives Material beherbergt, welches während des Betriebs und auch in der Nachbetriebsphase fachgerecht behandelt und entsorgt werden muss, ist die Stilllegung einer solchen Anlage vor allem auch eine logistische Herausforderung. Die schiere Menge an Abrissmaterial – rund 200 000 t müssen insgesamt abtransportiert werden – benötigt minutiöse Planung und trotzdem auch ein gehöriges Mass an Flexibilität.

«Wir sind zwar ausgezeichnet dokumentiert, kennen das Werk in- und auswendig und haben uns auf alle denkbaren Szenarien vorbereitet, aber man kann unmöglich alle möglichen Entwicklungen voraussehen», sagt Stefan Klute, Gesamtprojektleiter Stilllegung KKM. Sollte sich während der Stilllegungsarbeiten also etwas Unvorhergesehenes ereignen, «müssen wir die Flexibilität haben, die Arbeiten an einer anderen Stelle im Werk fortzuführen».

Nebst dem grossen Ganzen betrachtet Stefan Klute aber auch jedes einzelne «Arbeitspaket» als Herausforderung in diesem Projekt. «Wir müssen uns immer fragen, wie einfach der Zugang zur entsprechenden Stelle ist und ob wir es dort mit einem Strahlenfeld zu tun haben oder nicht.» Nicht nur einfacher Zugang ist wichtig, sondern auch der vorhandene Platz, um Anlagenteile herauszuschneiden, in transportierbare Teile zu zersägen, zu verpacken und abzutransportieren. Die Demontage eines 220 t schweren Generators ist beispielsweise eine sehr anspruchsvolle Aufgabe; ebenso wie der Abbau von Kerneinbauten, also jene Strukturen, welche sich direkt am Reaktor befinden. Beides verlangt aber nach unterschiedlichen Massnahmen.

3000 t für Würenlingen

Von den 200 000 t, welche insgesamt abgebaut und entsorgt werden, fällt in der ersten Rückbauphase bis 2031 bloss ein Zehntel an. Dabei handelt es sich quasi um das Innenleben des Werks. Während dieses «nuklearen Rückbaus» werden rund 20 000 t Material aus dem Werk abtransportiert. Davon sind etwa 3000 t radioaktives Material, welches ins Zwischenlager nach Würenlingen gebracht wird. Das restliche Material wird dekontaminiert, gereinigt und allenfalls getrennt. Anschliessend erfolgt die Freimessung, also der Nachweis, dass die Radioaktivität des Materials ein Niveau so weit unterhalb der Grenzwerte erreicht hat, das es nicht mehr nötig macht, das Material zu überwachen. Ist die Freimessung erfolgreich, wird das Material aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen. Auf dem Müll landen diese wertvollen Rohstoffe wie Messing, Kupfer, Eisen oder Edelstähle jedoch nicht. Vielmehr gelangen sie wieder in den Wertstoffkreislauf.

Mühleberg ist das erste Kernkraftwerk in der Schweiz, welches stillgelegt wird. Stefan Klute macht in diesem Umstand sowohl Vor- als Nachteile aus: «Die Erwartungshaltung, vor allem auch die öffentliche, ist sehr hoch. Das erhöht den Druck auf das Projekt, spornt das Team aber auch zusätzlich an.»

Eine Herausforderung sei hingegen, dass dieser Prozess in der Schweiz noch nie angewendet worden und die Stilllegung für alle Beteiligten absolutes Neuland sei. «Wir sind die Ersten bei den Bundesbehörden, bei der Aufsichtsbehörde Ensi und auch bei allen anderen involvierten Stellen wie dem Bundesamt für Umwelt oder dem Bundesamt für Gesundheit.» In diesem eigentlichen Findungsprozess sei jeder erst einmal vorsichtig. «Wenn dereinst die verbleibenden Kernkraftwerke in der Schweiz vom Netz gehen, haben wir den Weg vorgespurt. In diesem Sinne leisten wir alle hier schon eine gewisse Pionierarbeit.»

Mobile Demontagetrupps

Die Abbauarbeiten werden weder mit der Abrissbirne noch mit dem Skalpell vorgenommen. «Wir planen mit sieben bis acht kleinen Demontagetrupps à vier bis fünf Personen», erklärt Stefan Klute. Anlagen und Infrastrukturen, die zum Abbau freigegeben sind, werden farblich gekennzeichnet. Diese sind dann frei von Betriebsstoffen, Radioaktivität oder anderen Schadstoffen wie beispielsweise PCB oder Asbest, beprobt und auch die notwendigen Schutzmassnahmen sind definiert. Dann treten die Demontagetrupps in Aktion und verarbeiten die Anlagen zu «handlichen» Teilen, die sortenrein auf Paletten verpackt werden, damit pro Ladung nur gleiche Materialien durch die Dekontamination geführt werden. Anschliessend erfolgt die Freimessung und die Kennzeichnung jeder Charge mittels QR-Code. «So wissen wir stets, welche Kiste sich wo befindet», sagt Stefan Klute.

Obwohl der Abbau im Januar beginnt, sieht man dies der Anlage vorderhand nicht an. Erstmals dürfte die Stilllegung augenfällig werden, wenn 2027 das Einlauf- und das Auslaufwerk in der Aare demontiert werden. Dieser Abbau erfordert Spundarbeiten, weil die Rohre trocken aus der Aare geholt werden müssen, damit sie noch freigemessen werden können. «Wir gehen aber nicht davon aus, dass an diesen Bauteilen etwas gefunden wird.»

Emotionaler 20. Dezember

Den 20. Dezember 2019 beschreibt Stefan Klute als Meilenstein: «Der Leistungsbetrieb des Kernkraftwerks Mühleberg wird an diesem Tag eingestellt. Das wird bei vielen Mitarbeitern Emotionen hervorrufen, auch bei mir. Um dieses emotionale Loch aber gar nicht erst zu tief werden zu lassen, beginnen wir unmittelbar nach den Festtagen mit dem Abbau.» Stefan Klute geht davon aus, dass dieser zügige Abbau ein positives Aha-Erlebnis für die Mitarbeiter sein werde: «Ganz anders als in Deutschland, wo nach Fukushima diverse Anlagen schnell abgeschaltet worden sind und die Mitarbeitenden nicht wussten, wie es weitergeht.»

Die BKW bereitet ihre Mitarbeiter schon seit 2013 auf den 20. Dezember 2019 vor. Letztlich wird aber jeder individuell mit dieser Entwicklung umgehen müssen. «Wenn ein Mitarbeiter beispielsweise während 20 Jahren für eine Pumpe zuständig war und diese binnen vier Tagen demontiert und eingeschmolzen wird, ist das schon heftig. Innert vier Tagen ist das Arbeitsziel, der Arbeitsinhalt weg. Sich darauf einzulassen, ist für jeden eine grosse Herausforderung.» Dass das gerade im Bereich der Nukleartechnologie, wo Karriere- und damit Lebensplanung oftmals langfristig ausgelegt werden, nicht so einfach sei, weiss auch Stefan Klute. «Man muss sich damit auseinandersetzen, dass das Projekt Stilllegung endlich ist.»

«Das ist immer noch ein Kernkraftwerk»

Stefan Klute ist wichtig, zu betonen, dass sich an den Sicherheitsbestimmungen im Kraftwerk bis 2031 nichts ändert: «Wenn wir den Schalter umlegen, spriessen hier nicht umgehend Kraut und Rüben. Das hier ist nach wie vor ein Kernkraftwerk, dass später zu einer Kernanlage wird. Wir haben immer noch ‹Kern› drin. Zwar keinen Kernbrennstoff mehr, aber immer noch radioaktives Material.» Der Stellenwert des konventionellen Arbeitssicherheitsschutzes wird gegenüber dem Regelbetrieb sogar noch erhöht, weil während der Abbauarbeiten mehr Gerüste und Geräte zum Einsatz kommen als im Regelbetrieb.

Nach dem nuklearen Rückbau erfolgt ab 2031 der konventionelle Rückbau der Gebäudehülle. Für diese zweite Rückbauphase muss die BKW 2027 beim BFE eine weitere Verfügung beantragen. Dies ist eine Auflage der jetzigen Verfügung, die den nuklearen Rückbau regelt. In dieser aktuellen Konzeption geht die Betreiberin vom Abriss einer dannzumal als Industriebrache eingestuften Anlage aus. Diese soll nach Schadstoffen getrennt deponiert und entsorgt werden. Wahrscheinlich ist, dass auch noch etwas Sondermüll anfällt, da in den 60er- und 70er-Jahren Dämmmaterialien verwendet wurden, welche heute nicht mehr rezykliert werden dürfen.

Kühe, Camping oder Parkplatz?

2034 wird das Werk voraussichtlich komplett rückgebaut sein. Und dann? «Vom Kernkraftwerk Niederaichbach in Bayern, das zwischen 1987 und 1995 stillgelegt und rückgebaut worden war, ist heute nurmehr ein Gedenkstein übrig. Sonst ist da grüne Wiese mit weidenden Kühen.» Ob das Mühleberg-Gelände später einmal eine Kuhweide, ein Campingplatz oder doch ein Parkplatz wird, darüber mag sich Stefan Klute heute noch nicht so richtig Gedanken machen: «Vor fünfzehn Jahren gab es beispielsweise noch keine Smartphones. Und wir sollen jetzt entscheiden, was dort 2034 anstelle des Kraftwerks stehen soll?»

Autor
Ralph Möll

war Kom­mu­ni­kations­spezia­list beim VSE.

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