«Das muss man halt wollen»
Interview mit Netzfachfrau Silvia Rüegg
Silvia Rüegg ist eine der wenigen Netzfachfrauen in der Schweiz. Warum entscheidet sich eine junge Frau für diesen Beruf? Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit lauter Männern? Und wo sieht sie ihre Zukunft? Ein Portrait.
Es ist kalt an diesem Februarmorgen in der Ostschweiz. Sehr kalt. Die Bise pfeift einem um die Ohren und lässt diese buchstäblich in Windeseile eiskalt werden. Trotz dicker Handschuhe werden auch die Fingerspitzen schnell unangenehm gefühllos. Die Nase läuft und der scharfe Wind treibt einem Tränen in die Augen. Glücklich ist, wer bei solchen Witterungsbedingungen seinen Arbeitstag im geheizten Büro bestreiten kann. Sollte man zumindest meinen. Silvia Rüegg ist da ganz anders gestrickt. Die 27-Jährige liebt es, draussen an der frischen Luft zu sein, egal, ob die Sommerhitze drückt oder die Winterkälte schneidet. Sie geniesst das Gefühl von Freiheit, welches ihr die Arbeit im Freien gibt. Aber draussen ist nicht gleich draussen: «Am liebsten arbeite ich in ländlichen Gegenden, hier in der Stadt ist mir alles ein wenig zu eng.» Genau dieser Drang, sich draussen aufzuhalten, an der frischen Luft zu sein, bei jeder Witterung und ungeachtet der Temperatur, spielte vor über zehn Jahren, als sich Silvia Rüegg langsam Gedanken über ihre berufliche Zukunft zu machen begann, eine wesentliche Rolle.
Anerkennung für die Berufswahl
«Für mich war immer klar, dass ich an der frischen Luft arbeiten will», sagt Silvia Rüegg. Diese Vorliebe und ihr handwerkliches Geschick, welches sie von ihren Eltern, beides gelernte Landwirte, geerbt haben dürfte, führten die damalige Oberstufenschülerin bald einmal zur Tätigkeit der Netzelektrikerin. «In diesem Beruf kann ich draussen und mit meinen Händen arbeiten – zwei Aspekte, die mir sehr wichtig sind.» Im ruralen Umfeld aufgewachsen, fielen die Reaktionen von Familie und Bekanntenkreis auf diese Berufswahl durchaus wohlwollend und sogar anerkennend aus – nachdem Silvia Rüegg einmal erklärt hatte, was denn eine Netzelektrikerin überhaupt so tut. Silvia Rüegg hatte selbst noch nie vom Beruf der Netzelektrikerin gehört, bevor sie mit der Schule das Berufsbildungszentrum in Brugg besuchte. Eigentlich eher zufällig sei sie über dieses Berufsbild gestolpert, sagt Silvia Rüegg. «Es hörte sich sehr interessant an, und ich erhielt schnell eine Möglichkeit, eine Schnupperlehre zu absolvieren. Danach war mir klar, dass ich diese Arbeit in Zukunft machen wollte.»
Viele Umzüge
Eine Lehrstelle fand Silvia Rüegg bei der AEW Energie AG in Lenzburg. Nach Abschluss ihrer Ausbildung arbeitete sie während fünf Monaten in Uster, bevor es sie für vier Jahre ins Engadin zog. Dort gefiel es der naturverbundenen, jungen Frau ausnehmend gut: «Es gibt grosse, weitläufige Netze. Und um diese zu unterhalten, muss man in die Natur hinaus.» Sie habe auf diesen Netzen auch wertvolle Erfahrungen sammeln und viel Neues kennenlernen können. Wegen einer geplanten Weiterbildung zur Netzfachfrau mit eidgenössischem Fachausweis zog sie anschliessend nach Wil. Aus dem Engadin nach Kallnach und Lenzburg, wo die Weiterbildung, welche der VSE anbietet, stattfand, zu reisen, wäre ihr dann schon etwas zu viel gewesen. «Nach dem Abschluss der Weiterbildung konnte ich nun wieder ‹hinauf› in die Region Landquart ziehen.» Den einstündigen Arbeitsweg nach Fehraltorf zu ihrem Arbeitgeber, der Arnold AG, nehme sie dafür gerne in Kauf, sagt sie.
Die Weiterbildung zur Netzfachfrau mit eidgenössischem Fachausweis bestritt Silvia Rüegg mit rund 50 Männern. Für die Aargauerin eine alltägliche Situation, ist sie doch auch bei der Arbeit fast immer die einzige Frau inmitten lauter männlicher Arbeitskollegen. Eine Kollegin, um sich zwischendurch auch mal unter Frauen auszutauschen, fehle ihr aber keineswegs: «Ich habe im Berufsleben stets nur mit Männern zusammengearbeitet und kenne folglich gar nichts anderes.» Auch den andernorts oft gepriesenen Vorteil, dass in einer reinen Männerbelegschaft kaum Zickenkrieg herrsche, kann Silvia Rüegg nicht bestätigen «Männer sind da genau gleich wie Frauen», sagt sie lakonisch.
Vorurteile allenthalben
Vorurteilen begegne sie im Berufsalltag jedoch regelmässig, sagt Silvia Rüegg, aber man müsse schon ein wenig differenzieren, denn ihr Erscheinen löse bei ihren Kollegen jeweils unterschiedlichste Reaktionen aus. «Die einen ignorieren mich völlig und halten sich erst einmal an meine männlichen Teamkollegen. Ob sie mir die Arbeit nicht zutrauen oder ob sie aufgrund der ungewohnten Situation nicht wissen, wie sie auf mich reagieren sollen, ist schwierig zu sagen. Nach einer gewissen Zeit sehen sie aber, dass ich meinen Job verstehe und sie kommen dann auch auf mich zu.» Im eigenen Betrieb dauere die Phase jeweils zwei bis drei Wochen. Vor allem die erfahreneren Mitarbeiter, «also solche, deren Tochter ich sein könnte», seien dann jeweils richtig stolz darauf, dass eine Frau ihr Handwerk beherrsche, und erzählten das dann gerne ihren Kollegen aus anderen Unternehmen. Das sei ihr manchmal etwas unangenehm, denn «auch ich mache meinen Job nicht besser als die meisten anderen auch».
Andere wiederum lehnten eine Frau in einem solchen Männerjob kategorisch ab. «Es gibt auch Kollegen, die haben Freude und einen riesen Plausch, wenn eine Frau auf der Baustelle arbeitet.» Und dann gebe es noch jene, die es schlicht nicht interessiere, ob da nun ein Mann oder eine Frau mit ihnen arbeite. «Die machen keinen Unterschied. Und das ist mir am sympathischsten», erklärt Silvia Rüegg.
Zur Gruppenchefin befördert
Beruflich hatte die Weiterbildung zur Netzfachfrau mit eidgenössischem Fachausweis bereits «Konsequenzen»: Silvia Rüegg wurde zur Gruppenchefin befördert. Die entsprechenden Tätigkeiten hatte sie auch schon während ihrer Ausbildung ausgeführt. Beim aktuellen Auftrag – den Silvia Rüegg an diesem Tag gemeinsam mit Kollege Quentin Waber ausführt – obliege die Baustellenführung aber dem Auftraggeber und sie fungiere schlicht als Netzelektrikerin. Die Weiterbildung befähigte Silvia Rüegg sogar zur Chefmonteurin. «Allerdings suchen wir im Moment niemanden für diese Tätigkeit.» Die Zukunftsperspektiven für Silvia Rüegg und für Netzelektriker generell sind dennoch gut: In der Schweiz sind mehrere Hundert Netzelektriker-Stellen zu besetzen. Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei Weitem. Im letzten Jahr zeigte bulletin.ch Karrierechancen und Entwicklungsmöglichkeiten auf, welche Netzelektriker heute haben. Eine Ausbildung zur Netzelektrikerin respektive zum Netzelektriker kann immer auch ein Sprungbrett zu einer weiterführenden Karriere sein.
Auch Silvia Rüegg weiss das. Daher hat sie im vergangenen August die drei Jahre dauernde Ausbildung zur Technikerin Energie und Umwelt in Angriff genommen. «Danach würde ich mich gerne in Richtung Planung und Projektierung weiterentwickeln. Ausserdem möchte ich mir noch Kenntnisse zur Energie- und Effizienzberatung aneignen.» Silvia Rüegg arbeitet nun seit über zehn Jahren als Netzelektrikerin. Die Arbeit mit Strom hat sie aber nie als riskant empfunden: «Man muss Respekt haben, aber keine Angst.» Entweder wisse man, dass der Strom ausgeschaltet sei und prüfe entsprechend der fünf Sicherheitsregeln, oder man wisse, dass man unter Spannung arbeite, und dann ziehe man die entsprechende Sicherheitsausrüstung an. «Wenn man sich an die Regeln hält, passiert nichts.»
Die Möglichkeiten nach und nach erkannt
Die zahlreichen Möglichkeiten, welche einer ausgebildeten Netzelektrikerin offenstehen, hat Silvia Rüegg erst im Laufe der Zeit erkannt. «Diese Vielseitigkeit und die vielen möglichen Richtungen waren mir zu Beginn gar nicht klar. Ich wollte damals einfach etwas tun, das mir Freude und Spass bereitet.» Eine Notwendigkeit, den Beruf der Netzelektrikerin mehr Frauen schmackhaft zu machen, erkennt Silvia Rüegg nicht: «Es kommt doch darauf an, was eine Frau machen will, und nicht darauf, möglichst in jedem Beruf gleich viele Männer und Frauen zu haben.» Sie erinnert sich an eine Reportage über eine junge Strassenbauerin, welche das Schaufeln und Pickeln lieber ihren männlichen Kollegen überliess, diesen jedoch im Gegenzug Schreibarbeiten abnahm. «Diese Frau hätte genauso gut eine kaufmännische Ausbildung oder eine Lehre als Geomatikerin machen können. Das ist aus meiner Sicht eine komplett falsche Einstellung.» Wenn man eine handwerkliche Lehre machen wolle, dann richtig. «Das muss man halt wollen.» Auch wenn es draussen kalt ist.
Kommentare