«Das Energiesparpotenzial ist enorm»
Interview mit Prof. Ulrike Grossner
Leistungselektronik basiert heute meist auf Silizium. Die Forschung arbeitet seit Längerem daran, dieses Halbleitermaterial durch sogenannte Wide-Bandgap-Halbleiter zu ersetzen, deren Bauteile geringere Schaltverluste aufweisen. ETH-Professorin Ulrike Grossner erläutert im Interview das Potenzial der WBG-Technologie für eine effiziente Energieversorgung.
Halbleiter mit einer Bandlücke grösser als 3 eV gehören zur Klasse der Wide-Bandgap-Halbleiter (WBG-Halbleiter). Solche Halbleiter erlauben die Herstellung von elektronischen Bauteilen, die Schaltvorgänge mit sehr geringen elektrischen Verlusten ausführen, besonders bei hohen Spannungen und Frequenzen. Die wichtigsten WBG-Halbleiter sind Siliziumkarbid (SiC) und Galliumnitrid (GaN). Die Forschungsgruppe von Ulrike Grossner an der ETH Zürich untersucht, wie WBG-Halbleiter in geeignete Bauelemente verarbeitet werden können. Im Gespräch zeigt sie das Potenzial dieser Technologie auf.
Benedikt Vogel: Wenn Bauteile für Versorgung und Steuerung von Elektrogeräten mit Halbleiter-Materialien gebaut werden, spricht man von Leistungselektronik. Welche Rolle spielen leistungselektronische Bauteile für die Energieeffizienz?
Ulrike Grossner: Die Leistungselektronik ermöglicht eine effiziente Wandlung des elektrischen Stroms für die gewünschte Verwendung. Wird herkömmliche Elektrotechnik wie zum Beispiel ein Transformator durch Leistungselektronik ersetzt, erlaubt diese eine sehr effiziente Regelbarkeit speziell bei Motoren. Das bringt einen Gewinn an Energieeffizienz für das Gesamtsystem. Dank Leistungselektronik sind zum Beispiel auch Ladegeräte für Laptops und Natels nicht nur sparsamer, sondern auch kompakter geworden.
In welchem Umfang hat Leistungselektronik die frühere Elektrotechnik denn bereits abgelöst?
Im privaten Haushalt ist Leistungselektronik schon weit verbreitet, wie die genannten Beispiele deutlich machen. Was beim Staubsauger im Kleinen funktioniert, ist heute auch in der SBB-Lokomotive Standard. In das Antriebssystem der Loks hat die Leistungselektronik schrittweise Einzug gehalten: Erst nutzte man hier Thyristoren, ein leistungsstarkes Halbleiterelement auf der Grundlage einer Siliziumscheibe (Wafer), um diese Systeme schnell und exakt regeln zu können. Unterdessen verwendet man statt einzelner grosser Bauelemente kleine Chips, die in Modulen angeordnet sind. Das spart auch massiv Platz. So wurde es möglich, Triebwagen zu bauen, in denen neben dem Antriebsteil auch Passagiere Platz haben wie in unseren modernen Doppelstockzügen.
Leistungselektronik hat viele Neuerungen gerade in der nachhaltigen Stromversorgung überhaupt erst möglich gemacht: Die Stromproduktion von Photovoltaik- oder Windkraftanlagen ist schwankend, abhängig von der aktuellen Einstrahlung und den Windverhältnissen. Erst mit Wechselrichtern auf der Basis von Halbleitern ist es möglich geworden, diese Ströme effizient auf das Spannungsniveau zu bringen, das für die Netzeinspeisung erforderlich ist.
Nun ist mit den Wide-Bandgap-Halbleitern eine neue Generation von Halbleitern am Start, mit denen sich Bauteile der Leistungselektronik noch energieeffizienter herstellen lassen. Beobachter sprechen von einer «Revolution» für die Energieeffizienz. Ist diese Revolution in der Schweiz schon angekommen?
Richtig ist, dass man die Effizienz von leistungselektronischen Komponenten weiter steigern kann, indem man in elektronischen Bauteilen das bisher übliche Silizium durch WBG-Halbleiter ersetzt. Parallel zu diesem eher zukunftsorientierten Schritt der WBG-Halbleiter sollte nicht versäumt werden, den naheliegenden ersten Schritt konsequent umzusetzen: Wir sollten Leistungselektronik auf der Grundlage von vorhandener, Silizium- basierter Leistungselektronik bei allen Anwendungen einsetzen, wo dies heute möglich ist. Mit diesem Vorgehen können wir nämlich bereits heute ein grosses, brachliegendes Potenzial an Energieeffizienz erschliessen.
Sie erforschen an der ETH Zürich Wide-Bandgap-Halbleiter wie Siliziumkarbid. Wie gross ist das Energiesparpotenzial dieser Materialien?
Das Sparpotenzial der WBG-Halbleiter ist enorm! Nehmen wir als Beispiel das Natel: Eine Studie des US-amerikanischen Department of Energy aus dem Jahr 2015 beziffert den Energieverlust von Mobiltelefonen auf 37%, wobei ein erheblicher Teil auf die Silizium-gestützte Leistungselektronik im Ladegerät entfällt. Für ein einzelnes Telefon macht das im Jahr zwar nur 4,2 kWh aus, für alle Natels weltweit aber 23,5 TWh. Durch den Einsatz von WBG-Halbleitern liessen sich die Verluste laut Studie um rund 5,5 TWh verringern. Das ist annähernd ein Zehntel dessen, was die Schweiz in einem Jahr an Strom verbraucht. Mit WBG-Halbleitern liesse sich auch der Ertrag von kommerziellen Solaranlagen erhöhen.
Tatsächlich?
Ja, denn der eingesetzte Wechselrichter hat entscheidenden Einfluss, welcher Anteil des Solarstroms im Netz ankommt. Wechselrichter auf der Grundlage von Siliziumkarbid arbeiten mit einem Wirkungsgrad von bis zu 99% und damit um etwa 50% effizienter als die bisher gebräuchlichen aus Silizium. Leider werden die Siliziumkarbid-Inverter in grossen Solarfarmen heute oft nicht eingesetzt, obwohl sie auf dem Markt verfügbar sind, denn sie sind teurer als Silizium-Inverter. Damit sich das ändert, sollten Solaranlagen nicht nur aufgrund von kurzfristigen Baukosten bewertet werden, sondern es sollten Kosten und Erträge über die gesamte Betriebszeit hinweg (total cost of ownership) berücksichtigt werden. In dieser Rechnung schlagen die Mehrerträge dank der Siliziumkarbid-Inverter positiv zu Buche.
Sie haben in einer Studie im Auftrag des Bundesamts für Energie das Potenzial von WBG-Halbleitern untersucht. Wo sehen Sie weitere Einsatzfelder?
Siliziumkarbid kommt heute in Elektronik-Bauteilen von Solarinvertern und Ladestationen für Elektromobile sowie in der Stromversorgung von Telekomanwendungen zum Einsatz, ist aber auch in Leistungsfaktorkorrekturfiltern und in speziellen Bauteilen der Elektrizitätsdistribution und der unterbrechungsfreien Stromversorgung enthalten. Für den Wide-Bandgap-Halbleiter Galliumnitrid gibt es erste Anwendungen für Transistoren in der Automobilindustrie (beispielsweise für Klimaanlagen oder Radios). Sinnvoll wäre der Einsatz überall dort, wo es um relativ kleine Leistungen geht, etwa bei Ladegeräten für Mobiltelefone oder Laptops. Weitere Einsatzgebiete für WBG-Halbleiter sind Leistungselektronik-Komponenten für Rechenzentren, Industriemotoren, Traktionssysteme für Eisenbahnen sowie für Hybrid- und Elektroautos. Eine Studie aus dem Jahr 2017 kam zum Schluss, dass sich in diesen Bereichen mit WBG-Halbleitern weltweit bis zu 99 TWh Strom sparen liessen, also mehr als anderthalbmal so viel wie der jährliche Stromverbrauch der Schweiz.
Ein Wafer aus Siliziumkarbid ist ungefähr 25-mal teurer als ein Silizium-Wafer von derselben Grösse, allerdings sind die Silizium-Bauelemente bei gleicher Leistung auch grösser als diejenigen aus Siliziumkarbid. Wegen der höheren Kosten zögern viele Hersteller beim Einsatz von WBG-Halbleitern. Das gilt zum Beispiel für Antriebsstränge von Elektrofahrzeugen – die Autobranche ist extrem kostensensitiv. Man könnte WBG-Halbleiter auch in Ladegeräten von Laptops und Handys verbauen; aber wer ist denn heute bereit, für ein Ladegerät überhaupt Geld auszugeben? Das liesse sich vielleicht ändern, wenn solche Ladegeräte ein Energielabel wie Elektrohaushaltsgeräte hätten und sich umweltbewusste Konsumenten bewusst dafür entscheiden könnten. Denkbar wäre der Einsatz von Siliziumkarbid-Leistungselektronik auch in den Trafostationen des Stromnetzes. Die Firma ABB hatte um die Jahrtausendwende die Vision, alle Hochspannungsumrichter auf Silizumkarbid umzurüsten. Aus technischen und ökonomischen Gründen sind aber andere Anwendungen damals und auch heute eher erfolgversprechend.
Es gibt neben Siliziumkarbid und Galliumnitrid noch weitere WBG-Halbleiter wie Diamant oder Galliumoxid. Welche Bedeutung haben sie?
An Galliumoxid wird seit rund fünf Jahren geforscht. Es hat ein gutes Potenzial, die Grundlagen und Eigenschaften sind aber noch nicht ausreichend bekannt. Bei Diamant bin ich skeptisch, denn die Vorteile gegenüber Siliziumkarbid sind eher gering; ich zweifle, ob sich hier der Entwicklungsaufwand lohnen würde.
Siliziumkarbid wird seit den 1980er-Jahren erforscht, Galliumnitrid seit der Jahrhundertwende. Was braucht es, um diesen WBG-Halbleitern auf dem Markt zum Durchbruch zu verhelfen?
Ich denke, dass die aktuelle Klimadebatte oder höhere Strompreise den Anstoss geben könnten, die sehr effizienten, aber teureren WBG-Halbleiter vermehrt einzusetzen. Toyota hatte zuerst geprüft, die vierte Generation des Prius beim elektrischen Antriebsstrang mit Siliziumkarbid auszurüsten, schreckte davor aber zuletzt aus Kostengründen und Zweifeln an der Zuverlässigkeit zurück. Der Druck der öffentlichen Debatte rund um die Energiewende könnte den Ausschlag geben, dass in solchen Fällen künftig zugunsten von WBG-Produkten entschieden wird. Das gilt auch bei der Beschaffung von Bussen oder Zügen mit den entsprechenden Traktionssystemen.
Technisch gesehen sind leistungselektronische Bauteile auf der Grundlage von Wide-Bandgap-Halbleitern schon ziemlich ausgereift. Eine Aufgabe besteht noch darin, diese Chips ins System des jeweiligen Geräts einzubauen, also das sogenannte Packaging. Auch müssen wir die Anwender – sprich die Systemhersteller – darauf vorbereiten, mit diesen Bauelementen richtig umzugehen. Ausserdem fehlen noch wesentliche Daten zur Zuverlässigkeit, wie man sie normalerweise erst durch eine Vielzahl von Produkten im Markt erhält.
Unter dem Dach der Internationalen Energieagentur (IEA) arbeitet zurzeit die Pecta-Arbeitsgruppe auf internationaler Ebene das Thema der WBG-Leistungselektronik auf. Die Arbeitsgruppe, welche die Schweiz initiiert hat und an der die Schweiz massgeblich beteiligt ist, will politischen Entscheidungsträgern Know-how und Grundlagen zur Verfügung stellen, damit diese – wo angezeigt – politische Massnahmen zur Unterstützung des Markteintritts von WBG-Leistungselektronik ergreifen können.
Engagement
Schweiz ist bei Pecta dabei
Pecta (Power Electronic Conversion Technology Annex, Deutsch: Leistungselektronik zur Steuerung und Umwandlung elektrischer Energie) ist eine neue, international zusammengesetzte Expertengruppe unter dem Dach der Internationalen Energieagentur (IEA). Die IEA unterhält rund 40 Technology Collaboration Programs (TCP), darunter das Programm «Energy Efficient End-Use Equipment», kurz TCP 4E. Teil dieses Programms ist seit Frühling 2019 die Pecta-Arbeitsgruppe, in der Fachpersonen aus der ganzen Welt unter der Federführung der drei Länder Schweiz, Österreich und Schweden zusammenarbeiten. Das Gremium will das Effizienzpotenzial der Verwendung und Integration von WBG-Halbleitern in Leistungselektronik-Anwendungen evaluieren.
Im ersten Schritt hat sich die Arbeitsgruppe vier Aufgaben vorgenommen: Erstens soll das Effizienzpotenzial verschiedener Anwendungsbereiche für WBG-Halbleiter geprüft werden. Zweitens soll ein Fahrplan für die Umsetzung effizienter Elektronikgeräte erstellt werden. Drittes Ziel ist die Einbettung der Halbleitertechnologien in internationale Normen. Schliesslich engagiert sich das Gremium in der internationalen Wissensvermittlung und Vernetzung. Damit stehen politischen Entscheidungsträgern Grundlagen für zielgerichtete, regulative und/oder politische Massnahmen zur Unterstützung des Markteintritts der WBG-Technologie zur Verfügung.
Bis im kommenden Frühjahr soll eine «Scoping Study» die Basis für die weitere Arbeit des Expertengremiums legen. Diese wird dann im Zeitraum 2020 bis 2024 im Austausch mit Forschungseinrichtungen und Industrie – darunter Herstellern von Halbleitermaterialien und -geräten, aber auch von Systemherstellern – erfolgen.
Links
Bericht von Prof. Ulrike Grossner zum Potenzial der WBG-Technologien («New power electronic materials and devices and its impact on the energy efficieny»).
Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Elektrizitätstechnologien.
Auskünfte zu dem Thema erteilt Roland Brüniger (roland.brueniger@brueniger.swiss), Leiter des BFE-Forschungsprogramms Elektrizitätstechnologien.
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