Cyber-physisches Energiesystem
Anwendungsmöglichkeiten für KI
Künstliche Intelligenz kann in der Smart City für Energieeffizienz sorgen, interoperable Systeme ermöglichen oder einen resilienten Betrieb von Infrastrukturen der Energieversorgung sicherstellen.
Die vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien in allen Bereichen ist ein unerlässlicher Beitrag zum Erreichen der Klimaneutralität. Dazu müssen nicht nur Erzeugung und Verbrauch elektrischer Energie in Einklang gebracht, sondern auch Infrastrukturen, wie z. B. Stromnetze, zuverlässig und effizient betrieben werden. Mit der zunehmenden Digitalisierung wird aus den historisch gewachsenen Energieversorgungsstrukturen ein komplexes und dynamisches cyber-physisches Energiesystem (CPES), in dem Zehntausende von physischen und digitalen Komponenten miteinander interagieren.
Die aktuelle anwendungsnahe Forschung widmet sich der Realisierung cyber-physischer Energiesysteme mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen – energieeffizienten Smart-City-Quartieren, interoperablen Systemarchitekturen, Forschungsdatenmanagement bis hin zu Konzepten für den resilienten Betrieb digitalisierter Infrastrukturen der Energieversorgung.
Dieser Kontext intelligenter Energiesysteme bietet eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten für künstliche Intelligenz: Von der Prognose von Netzzuständen im Verteilnetz mit geringer Messpunktabdeckung über die automatisierte Umsetzung von Systemdienstleistungen wie Redispatch oder Blindleistungsmanagement bis hin zur algorithmisch unterstützten Aggregation und Vermarktung von Flexibilität aus dezentralen (Kleinst-) Anlagen am Energiemarkt. Künstliche Intelligenz ermöglicht nicht nur individuell smart agierende Einheiten, sondern hilft auch dabei, das Potenzial vernetzter und interagierender (Teil-) Systeme effizient und zuverlässig zu erschliessen.
Im Folgenden werden einige zentrale Themen vorgestellt und so das aktuelle Forschungs- und Entwicklungsumfeld umrissen. Diese Arbeiten eint eine Vision – AI-empowered Energy Systems. Dabei betrachten wir drei Bereiche: neue Herausforderungen im Bereich der Netzstabilität, optimierte Nutzung von Flexibilitäten in CPES sowie neue Energiemärkte.
Netzzustandsprognose mit neuronalen Netzen
Um auch im Zuge des Ausbaus der erneuerbaren Energien eine stabile Betriebsführung von Verteilnetzen zu erreichen, ist mehr Netztransparenz nötig. Diese wird normalerweise durch Sensorik gewährleistet, deren vollständiger Ausbau jedoch aus Kostengründen nicht möglich ist. Neue Ansätze erweitern die klassische State Estimation aus dem bisherigen Einsatzbereich der Übertragungsnetze auf die Anwendung in Verteilnetzen: KI-basierte Ansätze überführen die etablierte State Estimation in eine Neural State Estimation. Auf Basis dieser Technologie – insbesondere durch den Einsatz von Deep-Learning-Ansätzen, die sich gerade auch zum Erkennen von Zusammenhängen in Zeitreihendaten eignen – können Netzzustände bei geringer Messpunktabdeckung zuverlässiger und genauer prognostiziert werden als bisher. Der Weg zur Anwendung in Verteilnetzen wird somit geebnet.
Primärregelleistung mit neuen Akteuren
Auch Systemdienstleistungen mit hohen Anforderungen müssen künftig von diversen Akteuren in Stromnetzen erbracht werden. Am Beispiel der Batteriesysteme einer Flotte von automatisierten Schwerlastfahrzeugen (Automated Guided Vehicles, AGVs) wurde ein entsprechendes System im Hamburger Hafen umgesetzt. Dazu wurde ein System entwickelt, welches die für den Containerumschlag nötigen Transportleistungen der Fahrzeuge mithilfe neuronaler Netze kontinuierlich prognostiziert und mögliche Batteriekapazitäten und Zuweisungen von Ladestationen zu Fahrzeugen optimierend plant. Es kann so einerseits durch reaktive Flexibilität in Form von Regelleistung zur Systemstützung und andererseits durch proaktive Flexibilität in Form von gezielten Ladevorgängen auf Bedarfe des Energiemarkts eingegangen werden.
Ein von Offis entwickeltes Flexibilitätsmanagementsystem plant, koordiniert und überwacht die Ladevorgänge sowie die AGVs auf Basis agentenbasierter Optimierung. Das Logistik-integrierte System hat den Feldtest im Hamburger Container-Terminal Altenwerder erfolgreich absolviert – rund 90 autonome Schwerlasttransporter können nun bis zu 4 MW symmetrische Flexibilität für die Frequenzhaltung bereitstellen.
Selbstorganisiertes Flexibilitätsmanagement
Batteriespeicher sind ein wichtiger Baustein für Energieversorgungssysteme, die vorrangig erneuerbare Energien nutzen. Die Flexibilität von Batteriespeichern ermöglicht es, kurzfristige Schwankungen von PV-Anlagen und Windkraft auszugleichen und mit den Energiebedarfen von Haushalten, Gewerbe und Industrie in Einklang zu bringen. Gleichzeitig werden für elektrische Energiespeicher kostbare Ressourcen genutzt, die es optimiert und damit nachhaltig einzusetzen gilt. Um die heute zudem noch relativ teuren Speichersysteme wirtschaftlich und technisch optimal zu nutzen, werden Möglichkeiten einer Multi-Purpose-Nutzung von Batteriespeichern erprobt.
In Projekten des Offis mit der be.storaged GmbH wurden Speicher zu einem Speicherschwarm vernetzt, um die entstehenden Freiheitsgrade an Flexibilitätsmärkten anbieten zu können. Moderne Verfahren aus dem maschinellen Lernen und aus der verteilten künstlichen Intelligenz erlauben die Analyse, Vorhersage und verteilte Optimierung der Flexibilitätspotenziale. Kern des Speicherschwarms ist ein selbstorganisierendes Agentensystem: Intelligente Agenten, d.h. (eingeschränkt) autonome und lernfähige Software, managen die Flexibilität einzelner Batteriespeicher und ermöglichen die Nutzung der Gesamtflexibilität des Batteriespeicherschwarms. Der Speicherschwarm wurde in einem Feldtest erprobt und wird aktuell produktiv weiterentwickelt.
Flexibilitäten zur Systemstabilisierung
Mit dezentralen Anlagen können nicht nur Netzzustände in Verteilnetzen erkannt, sondern auch Instabilitäten und Engpässe behoben werden, um postfossile Zielszenarien unter Wahrung der Versorgungssicherheit zu erreichen.
Der aktuell skizzierte Redispatch-Prozess deckt dabei die Erfordernisse zur Integration von Kleinstanlagen noch nicht ab. Damit auch diese Flexibilitäten aus den Verteilnetzen in den Redispatch-Prozess eingebunden werden können, werden in aktuellen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten standardisierte Schnittstellen für den Flexibilitätsabruf entwickelt sowie eine robuste, anlagenscharfe Nachweiserbringung und Abrechnung on-the-edge von dezentralen Anlagen an der Schnittstelle zu Flexibilitätsplattformen konzipiert.
Die resultierenden Systeme setzen u. a. wegen der anfallenden Datenmengen und entsprechender Anforderungen an die Skalierbarkeit Konzepte aus dem Bereich der verteilten Systeme um. Neben Ansätzen der verteilten KI und kontrollierten Selbstorganisation stehen Ansätze für die sichere Identifikation von Anlagen über sogenannte self-sovereign identities im Fokus der Arbeiten.
Selbstlernende Akteure an Systemdienstleistungsmärkten
Schon jetzt erzeugen in Deutschland mehr als zwei Millionen PV-Anlagen Strom, bis 2030 sollen 15 Millionen Elektroautos unterwegs sein. Hinzu kommen Windparks, Wärmepumpen und Batteriespeicher. Für sich genommen sind die kleinen Verbraucher und Erzeuger von erneuerbaren Energien nicht problematisch, aber in ihrer Gesamtheit können Gleichzeitigkeitseffekte zu Instabilitäten führen.
Künftig sollen private Kleinanlagen auch bei Engpässen mit herangezogen werden, um diese wieder zu beheben oder zumindest abzuschwächen. Dabei sollen auch diese Aufgaben aus dem Bereich der Netzbetreiber marktbasiert erfolgen. Wie aber sieht ein geeignetes Marktdesign aus? Aktuelle Forschungsarbeiten fokussieren die Entwicklung von Tools für die Analyse möglicher Marktdesigns in diesem Kontext. Auswirkungen neuer Marktregeln auf das Akteursverhalten und damit auf die Resilienz des Stromsystems sollen so bewertet werden können. Der Einsatz und die Weiterentwicklung von Open-Source-Software und die umfassende Nutzung und Bereitstellung von Open Data sind dabei zentral.
Verfahren der künstlichen Intelligenz, insbesondere aus dem Bereich der selbstlernenden Systeme, werden mit bewährten Simulationstechniken kombiniert, um die Interaktionen zwischen Prosumern, die am Markt agieren, und der elektrischen Infrastruktur simulativ abzubilden. Dabei sollen die Marktteilnehmer in der Simulation eigenständig Gebotsstrategien lernen, um eine adaptive und damit realitätsnahe Reaktion der Prosumer auf Marktanreize untersuchen zu können.
Schwachstellenanalyse in neuen Märkten
Moderne Energiesysteme werden als cyber-physische Energiesysteme (CPES) verstanden, in denen digitale und physische Komponenten interagieren. Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung wächst auch die Angriffsfläche für Cyber-Angriffe. Traditionelle Methoden zur Analyse der Betriebssicherheit stossen dabei an ihre Grenzen, sodass Interaktionen zwischen Komponenten eines CPES sowie das Einwirken von externen Akteuren und Angreifern nicht vollständig erfasst werden können. Deshalb werden neue Analysemethoden benötigt, um systemische Schwachstellen und potenzielle Sicherheitsrisiken solcher komplexen CPES aufzudecken.
Eine Schlüsseltechnologie dazu stellt das sogenannte Adversarial Resilience Learning (ARL) dar. Im Kern der Methodik stehen zwei Akteure: eine angreifende und eine verteidigende künstliche Intelligenz. Der Angreifer sucht nach Schwachstellen und versucht, den Systemzustand negativ zu beeinflussen, während der Verteidiger geeignete Gegenmassnahmen lernt, um das System zu stabilisieren. Angreifer und Verteidiger trainieren sich somit indirekt gegenseitig.
Fazit
Mit der Transformation der Energiesysteme zu cyber-physischen Energiesystemen ergeben sich neue Herausforderungen bezüglich der Systemstabilität, der Marktsysteme, der Cyber-Security und vor allem der Beherrschbarkeit der resultierenden Komplexität. Selbstorganisierende und KI-basierte Ansätze zeigen in diesem Umfeld grosse Potenziale und kommen schon heute im Feld zum Einsatz. Dem Forschungsdatenmanagement kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, um die Effizienz der Forschung im Spannungsfeld zwischen industrieller Anwendung und neuen Ansätzen der Forschung zu verbessern.
Kommentare