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Buch: Taktiken der Entnetzung

Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter

25.05.2020

Digitale Medien buhlen mit ihren Push-Benach­richti­gungen kontinu­ierlich und unbe­rechenbar um Aufmerk­samkeit. Durch die Fähigkeit, ein Gefühl zu erzeugen, man könnte etwas verpassen, wenn man all diesen Messages nicht nachgeht, haben sie die Macht, den Lebensrhythmus der Empfänger zu stören. Je nach Häufigkeit können diese Unterbrechungen auch lästig werden. Dieser medialen Situation und der Art, wie gewisse Personen auf sie reagieren, ist dieses Büchlein gewidmet. Es ist nicht einfach als Anleitung zum glücklichen Offline-Leben gedacht, die Taktiken der Entnetzung individuell für jede Medienplattform aufführt – mit Checkliste, wie man möglichst effizient zur ersehnten Stille kommt. Denn an solchen Ratgebern mangelt es nicht. Stattdessen wird zunächst die digitale Medienlandschaft mit ihren Besonderheiten präsentiert, um dann anhand von spezifischen Einzelpositionen mögliche Reaktionen auf die Situationen zu skizzieren und aufzuzeigen, welche Vorstellungen von Stille und Ruhe existieren. Es ist also eine Studie mit einem phäno­meno­logischen Ansatz, bei der auch subjektive Aspekte erfasst werden. Der Vorteil liegt laut Autor darin, auch subtile Taktiken – kleine Gesten, oft unbewusste Verhaltensweisen – in persönlichen Gesprächen zu erfassen, die sonst durch die Maschen des Netzes der empirischen Sozial­forschung fallen würden.

Der Begriff Taktiken wird hier bewusst gewählt, als theoretische Position, die auf den Kultur­philo­sophen Michel de Certeau zurückgeht. Der Autor geht davon aus, dass sich die Nutzer der digitalen Medien auf fremdem, von den Strategien der gewinnorientiert operierenden Akteuren des Internets beherrschten Territorium befinden und sich «einen selbstbestimmten Parcours durch fremdes Gebiet suchen» sollten. Dabei können viele höchst unterschiedliche Taktiken zielführend sein.

Das Buch sensibilisiert für die Art, wie digitale Medien das Leben verändern, erhebt dabei aber nicht den Anspruch, dies repräsentativ zu tun. Es hilft, darüber nachzudenken, welche Art der digitalen Störung sich lohnt und bei welchen Medien man besser deaktivierend eingreifen sollte, um die Lebensqualität zu steigern und das Unbehagen, man sei fremdgesteuert, zu reduzieren. Vieles dürfte mediengeübten Lesern bereits bekannt sein, aber dennoch tut es gut, die Medienwelt noch einmal aus der Distanz zu betrachten, um sein eigenes Medienverhalten zu hinterfragen. Ein willkommener Beitrag zu einer bewussten Bewältigung des heutigen digitalen Lärms.

Guido Zurstiege, Suhrkamp, Taschenbuch, 297 Seiten, ISBN  978-3-518-12745-2, CHF 27.–

Autor
Radomír Novotný

ist Chefredaktor des Bulletins Electrosuisse.

  • Electrosuisse
    8320 Fehraltorf

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