Buch: Taktiken der Entnetzung
Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter
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Digitale Medien buhlen mit ihren Push-Benachrichtigungen kontinuierlich und unberechenbar um Aufmerksamkeit. Durch die Fähigkeit, ein Gefühl zu erzeugen, man könnte etwas verpassen, wenn man all diesen Messages nicht nachgeht, haben sie die Macht, den Lebensrhythmus der Empfänger zu stören. Je nach Häufigkeit können diese Unterbrechungen auch lästig werden. Dieser medialen Situation und der Art, wie gewisse Personen auf sie reagieren, ist dieses Büchlein gewidmet. Es ist nicht einfach als Anleitung zum glücklichen Offline-Leben gedacht, die Taktiken der Entnetzung individuell für jede Medienplattform aufführt – mit Checkliste, wie man möglichst effizient zur ersehnten Stille kommt. Denn an solchen Ratgebern mangelt es nicht. Stattdessen wird zunächst die digitale Medienlandschaft mit ihren Besonderheiten präsentiert, um dann anhand von spezifischen Einzelpositionen mögliche Reaktionen auf die Situationen zu skizzieren und aufzuzeigen, welche Vorstellungen von Stille und Ruhe existieren. Es ist also eine Studie mit einem phänomenologischen Ansatz, bei der auch subjektive Aspekte erfasst werden. Der Vorteil liegt laut Autor darin, auch subtile Taktiken – kleine Gesten, oft unbewusste Verhaltensweisen – in persönlichen Gesprächen zu erfassen, die sonst durch die Maschen des Netzes der empirischen Sozialforschung fallen würden.
Der Begriff Taktiken wird hier bewusst gewählt, als theoretische Position, die auf den Kulturphilosophen Michel de Certeau zurückgeht. Der Autor geht davon aus, dass sich die Nutzer der digitalen Medien auf fremdem, von den Strategien der gewinnorientiert operierenden Akteuren des Internets beherrschten Territorium befinden und sich «einen selbstbestimmten Parcours durch fremdes Gebiet suchen» sollten. Dabei können viele höchst unterschiedliche Taktiken zielführend sein.
Das Buch sensibilisiert für die Art, wie digitale Medien das Leben verändern, erhebt dabei aber nicht den Anspruch, dies repräsentativ zu tun. Es hilft, darüber nachzudenken, welche Art der digitalen Störung sich lohnt und bei welchen Medien man besser deaktivierend eingreifen sollte, um die Lebensqualität zu steigern und das Unbehagen, man sei fremdgesteuert, zu reduzieren. Vieles dürfte mediengeübten Lesern bereits bekannt sein, aber dennoch tut es gut, die Medienwelt noch einmal aus der Distanz zu betrachten, um sein eigenes Medienverhalten zu hinterfragen. Ein willkommener Beitrag zu einer bewussten Bewältigung des heutigen digitalen Lärms.
Guido Zurstiege, Suhrkamp, Taschenbuch, 297 Seiten, ISBN 978-3-518-12745-2, CHF 27.–
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