Bidirektionales Laden aus Sicht des Stromsystems
Flexibilitätspotenzial optimal nutzen
Der wachsende Anteil der individuellen Elektromobilität stellt für das Stromsystem eine Herausforderung, aber auch eine Chance dar, da Elektroautos dem Stromsystem wichtige Flexibilität bereitstellen können, beispielsweise, um mehr erneuerbaren Strom nutzen zu können. Offen ist noch, wie wir uns diese Flexibilität am besten zunutze machen können.
Der Anteil von Steckerfahrzeugen an den Neuzulassungen in der Schweiz nimmt kontinuierlich zu. Ihr Anteil am Bestand ist 2023 auf über 3% gewachsen. Entsprechend der Roadmap Mobilität hat sich die Schweiz das Ziel gesetzt, bis 2025 einen Anteil von 50% Steckerfahrzeugen bei den Neuzulassungen zu erreichen. Gleichzeitig entbrennen um E-Autos immer wieder Diskussionen über ihre Auswirkungen auf die Umwelt oder auf das Stromsystem. Während die Antwort auf die erste Frage immer klarer wird – Elektrofahrzeuge sind besser für die Umwelt als Benzin- oder Dieselfahrzeuge, öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrräder noch besser – ist die Frage, wie das Stromsystem auf die steigende Nachfrage bei einem hohen Anteil von Steckerfahrzeugen vorbereitet werden kann, noch nicht abschliessend geklärt.
Aus Sicht des Stromsystems geht es bei der Bewältigung der zusätzlichen Last durch Elektrofahrzeuge nicht nur um die Menge, sondern auch um Zeitpunkt und Ort. Wenn die Stromnachfrage durch Elektroautos die Residuallast – also die Last im System, die nicht durch erneuerbare Energien gedeckt werden kann – erhöht, kann dies kurzfristig die zusätzliche Stromerzeugung mit teuren Spitzenlast-Kraftwerken und langfristig zusätzliche Investitionen in Erzeugungs-, Speicher- oder Netzkapazitäten bedingen. Werden Elektrofahrzeuge geladen, wenn die Erzeugung aus erneuerbaren Energien die Last übersteigt, d.h. bei negativer Residuallast, können sie dazu beitragen, dass mehr erneuerbare Erzeugung in das System integriert wird.
Aus Systemsicht optimal Laden
Will man sicherstellen, dass Elektroautos dann und dort geladen werden, wo es aus Sicht des Systems sinnvoll ist, kommen die Begriffe V1G und V2G ins Spiel. V1G steht für das Potenzial des flexiblen, unidirektionalen Ladens. Dabei werden Ladevorgänge von Zeiten, in denen Elektrofahrzeuge Nachfragespitzen verschärfen würden, in Zeiten verlagert, in denen Strom nicht rar ist. V2G geht noch einen Schritt weiter. Während Ladevorgänge auch hier zeitlich verschoben werden, speisen Elektroautos bei V2G in Zeiten, in denen Strom knapp ist, auch ins Stromnetz zurück. Ob und welche Art von Flexibilität der Elektroautos genutzt werden kann, hängt von technischen, verhaltensbezogenen und wirtschaftlichen Faktoren ab.
Aus technischer Perspektive haben die Kapazität und Effizienz der Fahrzeugbatterien sowie die Leistung der Ladestationen einen bedeutenden Einfluss auf die mögliche Flexibilität. Das Verhalten bestimmt wiederum den Verbrauch von Elektrofahrzeugen etwa durch die zurückgelegten Strecken und die Fahrweise. Wann ein Auto an die Steckdose angeschlossen und wann es aufgeladen wird, hängt gleichermassen vom Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer von Elektrofahrzeugen wie von der Verfügbarkeit der Ladeinfrastruktur, wie etwa Ladestationen am Arbeitsplatz oder im Mehrfamilienhaus, ab. Autofahrerinnen und Autofahrer haben auch individuelle Präferenzen, ob sie die Flexibilität ihres Fahrzeugs zur Verfügung stellen möchten – etwa, wenn sie viel Wert darauf legen, dass die Batterie möglichst immer vollgeladen ist. Zudem bestimmen wirtschaftliche Faktoren, wie viel Flexibilität abgerufen wird. Die optimale Gestaltung von Preisen und Anreizen ist dabei zentral.
Die richtigen Anreize setzen
Das Lade- und Einsteckverhalten bei Elektroautos kann stark durch Anreize beeinflusst werden. Während Preise auf den Stromgrosshandelsmärkten Auskunft darüber geben, ob Strom zu einem bestimmten Zeitpunkt knapp oder im Überfluss vorhanden ist, wird dieses Signal oft nicht oder nur teilweise an Nutzerinnen und Nutzer von Elektroautos weitergegeben. Derzeit gelten für sie oft Einheitstarife oder Hoch- und Niedertarife. Während erstere keine Anreize für ein systemfreundliches Laden setzen, können letztere, die häufig zwischen Tag und Nacht differenzieren, einen Anreiz bieten, das Laden in die Nacht zu verlegen. Nachts war Strom früher oft im Überfluss vorhanden und daher günstiger. Dies könnte auch weiterhin so bleiben. Gleichzeitig werden wir vermehrt auch niedrige Grosshandelspreise am Mittag sehen, wenn die PV-Erzeugung hoch ist. Insgesamt wird die Preisvolatilität zunehmen. Haushalte mit Solarmodulen erhalten Anreize für den Eigenverbrauch, da Netzkosten und Abgaben entfallen. Alle diese Anreize widerspiegeln nicht immer den Gesamtzustand des Stromsystems. Es werden daher bessere Anreize benötigt, die ein klares Signal über den aktuellen Zustand des Systems geben, um das Potenzial des flexiblen Ladens auszuschöpfen.
Das Potenzial von dynamischen Tarifen
Eine derzeit diskutierte, aber in der Schweiz noch nicht in grösserem Umfang eingeführte Lösung sind dynamische Tarife, die mit hoher zeitlicher Auflösung aktuelle Informationen über die Stromknappheit (Energietarife) oder den Grad der Auslastung des Stromnetzes (Netznutzungstarife) übermitteln. Solche dynamischen Tarife wurden bereits in anderen Regionen der Welt erprobt und entschädigen die Nutzerinnen und Nutzer von Elektrofahrzeugen für systemfreundliches Laden. Um das Potenzial der Flexibilität von Elektrofahrzeugen auszuschöpfen, sind dynamische Energie- und Netznutzungstarife nötig, denn sie geben ein klares Preissignal. Dies kann sowohl durch die Einführung dynamischer Verbrauchertarife als auch durch Intermediäre wie Aggregatoren, die flexible Anlagen kontrollieren und die Flexibilität auf den Strommärkten handeln, umgesetzt werden. Während volldynamische Tarife aus der Systemperspektive wahrscheinlich den grössten Nutzen bringen, kann es technische, gesellschaftliche und regulatorische Hindernisse für ihre Einführung geben. Als Zwischenschritt können daher auch andere Tarifmodelle wie direkte Laststeuerungstarife, die vermehrt von EVUs in der Schweiz angeboten werden, eine effiziente Integration von E-Fahrzeugen unterstützen.
Lohnt sich die Erschliessung zusätzlicher Flexibilität?
Offen bleibt, wie wertvoll diese zusätzliche Flexibilität für das System sein kann. Flexibles Laden durch V1G kann die Spitzenlast reduzieren und dadurch kurzfristig Strompreise senken und langfristig den Bedarf an zusätzlicher Erzeugungs-, Speicher- oder Netzkapazität mindern. Zudem kann es zu einer besseren Integration der erneuerbaren Energien beitragen, wenn das Laden zu einem Zeitpunkt und an einem Ort erfolgt, an dem die Einspeisung aus erneuerbaren Energien sonst möglicherweise abgeregelt würde. Ob dies auch aus Systemperspektive einen Nutzen bringt, hängt von den Kosten für die Nutzung des Flexibilitätspotenzials ab. Erste Studien deuten aber auf ein klar positives Kosten-Nutzen-Verhältnis hin.
Ein direkter Vergleich des Zusatznutzens von V2G gegenüber V1G, der die ökonomischen und technischen Potenziale der beiden Strategien diskutiert, wurde für die Schweiz unseres Wissens jedoch noch nicht durchgeführt. Gerade die Frage, ob V2G in der Systembetrachtung einen wirtschaftlichen Zusatznutzen gegenüber V1G erbringt, hängt von den Kosten für die Implementierung von V2G ab. Derzeit betragen die Kosten für die V2G-Ladeinfrastruktur ein Vielfaches der Kosten für die V1G-Ladeinfrastruktur, weil V2G andere Ladestationen, oft mit zusätzlicher Hardware, erfordert. Zudem führen die bisher geringen Produktionsmengen und das relativ frühe Stadium der Technologie zu höheren Kosten.
Erst wenn der Kostenunterschied zwischen V2G und V1G durch den zusätzlichen Nutzen aufgewogen wird, kann V2G zu einer Kosteneinsparung im Gesamtsystem führen. Darüber hinaus kann es auch Unterschiede in der Akzeptanz für V1G und V2G geben – hier können etwa Befürchtungen einer schnelleren Degradation der Fahrzeugbatterie durch häufiges Be- und Entladen eine Rolle spielen.
Vorläufige, bisher unveröffentlichte Arbeiten der TU Delft im Rahmen des SWEET-PATHFNDR-Projekts, die sich mit dem gesamten europäischen Stromsystem befassen, zeigen, dass die zusätzlichen Vorteile von V2G gegenüber V1G zwischen 20 und 25% der Vorteile von V1G liegen. Für die Schweiz mit ihrem hohen Anteil an flexibler Stromerzeugung aus Wasserkraftwerken wird dieser Nutzen wahrscheinlich geringer ausfallen. Um diese Frage genauer beantworten zu können, untersuchen Forschende der ETH Zürich und anderer Schweizer Hochschulen nun im Rahmen der vom BFE finanzierten Projekte SWEET-PATHFNDR und SWEET-EDGE mit Hilfe detaillierter Fahrzeug-Elektrifizierungs- und Stromsystemmodelle verschiedene Strategien für die Integration von Elektrofahrzeugen in das Stromsystem.
Ausblick
Elektroautos sind ein wichtiger Pfeiler für die Dekarbonisierung des Verkehrssektors. Ihre Einbindung ins Stromnetz könnte zu zusätzlichen Kosten für die Stromversorgung führen, wenn nicht sichergestellt wird, dass Ladevorgänge den Gesamtzustand des Stromsystems berücksichtigen. Dynamische Energietarife und dynamische Netzentgelte können eine zentrale Rolle spielen, um Nutzerinnen und Nutzern von Elektroautos die richtigen Preissignale zu geben und das volle Flexibilitätspotenzial der Integration von Elektrofahrzeugen zu nutzen.
Mehr Forschung ist nötig, um den Wert der Flexibilität von E-Fahrzeugen durch V1G oder V2G für das Stromsystem zu ermitteln. Ein besseres Verständnis des Ladeverhaltens von Nutzerinnen und Nutzern von Elektrofahrzeugen ist ein erster Schritt zu einer tiefergehenden Bewertung beider Ansätze zur Integration der Flexibilität von E-Autos. Da die Zahl der E-Autos in der Schweiz weiter zunimmt, wird es immer wichtiger, gute Antworten auf diese Fragen zu finden. Mehrere Forschungsprojekte der ETH Zürich befassen sich deshalb mit diesen Fragen.
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