Bidirektional Laden
Historische Hürden, neue Chancen
Etwa 90% der Zeit stehen Elektroautos herum und könnten als Energiespeicher für zahlreiche Anwendungen genutzt werden. Aber nicht nur das Potenzial ist gross, sondern auch die Herausforderungen.
Erneuerbare Energien erzeugen Elektrizität schwankend und nicht immer prognostizierbar. Das Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch lässt sich mit Laststeuerung ausgleichen. Mit der Zunahme der Photovoltaik steigt aber der Bedarf an kurzfristiger Flexibilität deutlich. Er liesse sich mit lokalen, stationären Energiespeichern abdecken, aber es wäre wirtschaftlicher, die Batterien der meist stehenden Elektroautos dafür einzusetzen. Ihre Nutzung wäre preisgünstiger und nicht durch Einsprachen gefährdet wie der Bau neuer Pumpspeicherkraftwerke. Der Elektromobilitätsexperte Marco Piffaretti plädiert deshalb dafür, Pumpspeicher eher für die saisonale Energiebereitstellung einzusetzen und kurzzeitige Regelungen den Elektroautos zu überlassen, die bidirektional geladen werden können.

Bidirektional geladen? Eigentlich ist dieser Ausdruck irreführend, denn nur eine Richtung des Stromflusses dient dem Laden des Energiespeichers von Elektroautos. Aber der damit gemeinte Sachverhalt ist sehr nützlich. In vielerlei Hinsicht, denn die Batterien stehender Elektrofahrzeuge können beispielsweise beim Campen Kaffeekocher betreiben, zu Hause bei Prosumern den Eigenverbrauch erhöhen, bei einem Stromausfall eine unterbruchfreie Versorgung sicherstellen oder einen Beitrag zur Stabilisierung des Verteilnetzes leisten. Aufgaben, die mit der Zunahme der erneuerbaren Energien immer wichtiger werden.
Die aktuell am häufigsten angebotene Funktion ist Vehicle-to-Load (V2L). Sie steht nicht wegen ihrer überragenden Nützlichkeit im Vordergrund, sondern weil sie für Fahrzeughersteller einfach implementiert werden kann. Da es sich um einen Inselbetrieb handelt, müssen die 50 Hz nicht mit dem Stromnetz synchronisiert werden. Zudem ist ein dreiphasiger Betrieb oft nicht möglich – es steht meist nur eine Phase zur Verfügung.
Den grössten Kundennutzen dürfte Vehicle-to-Home bringen, besonders für die Steigerung des Eigenverbrauchs bei Kunden mit eigener Solaranlage. Gemäss Marco Piffaretti liesse sich aber auch beim Vehicle-to-Grid viel herausholen, wenn es kommerziell verfügbar ist. Mit einem Mobility-Projekt wurde untersucht, welcher Ertrag sich mit dem bidirektionalen Laden erreichen liesse. Ergebnis: Pro Fahrzeug ist ein jährlicher Ertrag zwischen 500 und 1500 Franken möglich. Er hängt allerdings stark vom Standort ab, denn die Tarife unterscheiden sich signifikant.
Noch mehr profitieren könnte man gemäss Piffaretti vom Energiehandel bei einem komplett liberalisierten Strommarkt. Elektroautos könnten mit preisgünstigem Strom geladen werden, und der Strom könnte danach verkauft werden, wenn er dreimal teurer ist. Eine vor zwei Jahren durchgeführte ETH-Studie in Zusammenarbeit mit Helion kommt zum Schluss, dass durch einen solchen Energiehandel in der Schweiz 6 Milliarden Franken gespart werden könnten. Das Problem: Heute können sich Privatkunden nicht am Strommarkt beteiligen, denn die Liberalisierung fängt erst bei 100'000 kWh jährlich an. Diese Schwelle dürfte aber mit Elektrolastwagen leicht erreicht werden und sie könnten im liberalisierten Markt aktiv werden. «Deswegen ist bidirektionales Laden auch eine interessante Technologie für grosse Fahrzeuge», sagt Piffaretti.
Für Sekundärregelung muss heute mindestens ±5 MW angeboten werden können, also eine Leistung, die für ein Kraftwerk keine grössere Schwierigkeit darstellt. Dabei wird vorausgesetzt, dass eine wirtschaftliche, zuverlässige und sichere Kommunikation zu den Dienstleistungsanbietern existiert. Bei Elektroautos müsste man für eine Teilnahme an den Auktionen einen Pool aus 500 Fahrzeugen bilden, die ebenfalls zuverlässig und praktisch in Echtzeit mit den Dienstleistungsanbietern kommunizieren können – eine hohe Eintrittsbarriere. In anderen Ländern ist dies einfacher. Beispielsweise kann man in Schweden schon mit zehn Elektroautos teilnehmen. Für Swissgrid ist es natürlich einfacher, einen grossen Lieferanten zu steuern als viele kleine. Piffaretti bedauert dies: «Wenn wir denken, wie viel Flexibilität auf den Rädern zur Verfügung steht, ist es schade.»

Der Grund für diese hohe Hürde liegt in der Geschichte des europäischen 50-Hz-Verbundnetzes, das von Laufenburg aus – für ganz Europa – entstand. Zur Stabilisierung der Netzfrequenz werden unter anderem die alpinen Pumpspeicherkraftwerke eingesetzt, die bereits im letzten Jahrhundert gebaut wurden. Gemäss Piffaretti sind die Ausschreibungen des Energiemarkts so gestaltet, dass sie genau auf die grossen Pumpspeicherkraftwerke zugeschnitten sind. Dies überrascht nicht, denn es gab früher keine Alternative. Eine Öffnung des Systems in Richtung kleinere Speicher würde das bidirektionale Laden fördern.
Ungleichbehandlung
Bei den Pumpspeicherkraftwerken werden Wirkungsgradverluste in manchen Ländern finanziell kompensiert. Beispielsweise erhält ein italienischer Kraftwerksbetreiber als Entgelt pauschal 110% der gelieferten Energiemenge. Das ist zwar verständlich, aber bei Elektroautos gibt es keinen vergleichbaren finanziellen Ausgleich. Den Lade-Entlade-Verlust übernimmt der Fahrzeugbesitzer. Piffaretti weist deshalb auf Folgendes hin: «Wenn wir gleich viel Leistung aggregieren wie ein Pumpspeicherkraftwerk, hätten wir wegen den Verlusten einen um 10% schlechteren Business Case.» Er plädiert deshalb dafür, bei neuen Technologien, die volkswirtschaftlich Sinn machen, die Regeln und Normen anzupassen. Es geht dabei nicht um Subventionierung, sondern darum, dass alle die gleichen Voraussetzungen haben.
Wo soll der Wechselrichter sein?
Ein Aspekt, der sich ebenfalls finanziell auswirkt, ist die Frage nach dem Installationsort des Inverters. Der Wandler kann im Auto oder in der Wallbox integriert sein, wobei jede Variante aus Sicht des bidirektionalen Ladens ihre Vor- und Nachteile hat. Grundsätzlich muss sich der Inverter netzverträglich verhalten. Er darf nicht einfach beliebig zurückspeisen, sondern muss sich an den Grid Code, d.h. an die Vorgaben des lokalen Elektrizitätswerks halten.
Für fest installierte Inverter ist dies kein Problem, denn die netzrelevanten Parameter werden bei der Installation eingegeben, damit sich der Inverter so verhält, dass der Betrieb des Netzes nicht beeinträchtigt wird. Für Inverter in Autos sieht es deutlich komplizierter aus, denn in der Schweiz hat es rund 600 Elektrizitätswerke bzw. Verteilnetzbetreiber, deren Grid Codes sich voneinander in gewissen Details unterscheiden. Und fährt ein solches Auto ins Ausland, muss es auch die dortigen Grid Codes kennen. Dies kann live mit der GPS-Position geschehen, mit der dann der gültige Grid Code heruntergeladen werden kann. Ein Sonderfall ist Frankreich, das nur einen einheitlichen Grid Code kennt, weil das ganze Land von einem einzigen Verteilnetzbetreiber versorgt wird. Dies ermöglichte es Renault, bidirektionale Inverter direkt in die Fahrzeuge zu integrieren. Hierzulande – und in Deutschland mit über 800 Verteilnetzbetreibern – dürften sich hingegen die stationären Inverter durchsetzen.
Wegen der komplizierten Situation mit den zahlreichen Grid Codes bevorzugen viele europäische Hersteller stationär installierte Inverter, die mit Gleichstrom laden, obwohl sie deutlich teurer sind, sogar teurer als Solarwechselrichter. Gründe für diesen hohen Preis gibt es einige: die zusätzlich benötigte Leistungselektronik, die galvanische Trennung, die bei Solarinvertern nicht nötig ist und kleinere Produktionsstückzahlen. Der Preis einer stationären bidirektionalen DC-Ladestation mit ±22 kW liegt heute bei rund 13'000 Franken. Einige Kantone übernehmen bis zu 4000 Franken an diesen Kosten, weil sie davon ausgehen, dass sie sich mit diesen Ladestationen Zugang zu grossen Energiespeichern erschliessen.
Damit man sich versteht
Aber nicht nur die Investitionskosten stellen eine beträchtliche Hürde für den Erfolg des bidirektionalen Ladens dar, sondern auch die noch fehlende Interoperabilität. Marco Piffaretti erläutert: «Für Vehicle-to-Grid müssen wir zwei Kommunikationsbrücken schlagen. Eine Seite ist vom Auto zur Ladestation, die andere Seite ist von der Ladestation zum Netz. Bei diesen zwei Brücken müssen wir ein interoperables Protokoll haben, eine Sprache, die für alle Autohersteller, Ladestationshersteller und idealerweise für alle Verteilnetzbetreiber kompatibel ist.»
Schon heute lassen sich Inverter regeln, beispielsweise um langsam zu laden oder um den Ladevorgang abzubrechen, wobei die Kommunikation durch den Herstellungsort vorgegeben ist. Autohersteller unterschiedlicher Regionen und Länder wie Japan und Deutschland haben spezifische Protokolle entwickelt und eingesetzt, die nicht miteinander kompatibel sind. Beispielsweise wurde in Japan ein japanisches Protokoll entwickelt, in Deutschland ein deutsches. Erschwerend kommt hinzu, dass es lokale Dialekte gibt. Piffaretti vergleicht es mit der menschlichen Sprache: «Ein Mercedes spricht den Stuttgarter Dialekt, ein BMW den Münchner Dialekt. Es ist zwar das gleiche deutsche Protokoll, aber mit unterschiedlichen Akzenten.» Diese Details verunmöglichen es, einen BMW mit einer bidirektionalen Ladestation von Mercedes zu entladen und umgekehrt. Innerhalb eines Dialektes funktioniert es aber problemlos.
Um sich auf einen Dialekt zu einigen, wurde vom Technology Collaboration Programme (TCP) der Internationalen Energieagentur IEA – motiviert durch einen Vorschlag aus der Autohersteller-neutralen Schweiz – der Task 53 «Interoperability of bidirectional charging» (Inbid) gegründet. Am Task sind Netzbetreiber, Fahrzeughersteller und Ladelösungshersteller beteiligt, hauptsächlich aus der Schweiz, Deutschland, den USA und Südkorea, wobei noch weitere Industriepartner erwartet werden, besonders aus den Ländern, die Task 53 erst vor Kurzem beigetreten sind. Der Task 53 hat ein gewisses Gewicht, denn die 1974 nach der Ölkrise gegründete IEA repräsentiert rund drei Viertel des globalen Energieverbrauchs. Das Ziel ist das Erarbeiten der Interoperabilität für die drei Ladesysteme Wandler im Auto (wie im Renault 5), Wandler in stationärer Ladestation (beispielsweise Sun2wheel-Ladestationen für VW-ID) und induktives Laden (z.B. von Brusa). Als Basis dient die ISO 15118-20, also eine bereits bestehende Norm. Dabei ist der physische Stecker zweitrangig, es geht primär um den Kommunikationsstandard. Bei den Steckern gibt es regionale Verdrängungsbewegungen, die für die Kommunikation weniger wichtig sind. Beispielsweise hat sich in den USA der Tesla-Stecker durchgesetzt, während in Europa der CCS2 dominiert, in China GB/T und in Japan Chademo.

In der Autobranche dominieren zurzeit proprietäre Protokolle, auch weil sich gewisse Hersteller dadurch einen Marktvorteil erhoffen. Der Schnellere hofft darauf, dass sich seine Technologie durchsetzt. Diesem Trend will sich der Task 53 widersetzen und will die Vielfalt, die den Nutzen einschränkt, reduzieren auf Lösungen, die miteinander reden. Damit das Optimum für das Energiesystem erreicht werden kann.
Fazit
Das Flexibilitätspotenzial, das bei Elektroautos durch das bidirektionale Laden erschlossen werden kann, wächst zunehmend. Eine solche Nutzung der Energiespeicher auf Rädern beeinträchtigt ihre Lebensdauer praktisch nicht, und das Energiesystem würde vom zusätzlichen Energieausgleich profitieren. Je nach Anwendung könnte sich sogar derjenige, der sein Fahrzeug zur Verfügung stellt, einen finanziellen Vorteil schaffen, sobald die Investitionskosten amortisiert sind. Wie schnell das bidirektionale Laden zu einem wichtigen Player im Energiesystem wird, ist offen. Wenn es – wie zurzeit in Kalifornien durch die Senate Bill 59 – obligatorisch werden würde, ginge es relativ schnell. Aber auch ohne Obligatorium dürften solche Energiespeicher, bei sinkenden Kosten, breiter Interoperabilität sowie eventuellen Anreizen für Fahrzeug- und Ladesystemhersteller künftig einen wertvollen Beitrag zur Erhöhung der Versorgungssicherheit und zu einer nachhaltigeren Energieversorgung leisten.
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