Bekenntnis zu einer Strategie lohnt sich
Positionierung im vollständig geöffneten Markt
Egal, wann und wo: Energie braucht es immer; Energie fliesst immer. Auch im vollständig geöffneten Markt. In der bisher weitgehend unbekannten Konkurrenzsituation stehen die Energieversorger vor der Herausforderung, Kunden ab- und anzuwerben. Eine mögliche Strategie dafür könnte die Emotionalisierung von Energie sein.
Nachbarländer der Schweiz befinden sich seit Jahren im voll liberalisierten Energiemarkt. Der herausfordernden Aufgabe, sich zu vermarkten – sprich, ihre bestehenden Kunden zu halten und neue zu gewinnen –, mussten sie sich stellen, als die Digitalisierung noch eine Vision war. Deshalb war die Ausgangslage für den freien Markt damals eine ganz andere; vor allem anders, als sie die Schweizer Energiebranche je antreffen wird. Das Nutzerverhalten hat sich verändert und somit auch die Bereitschaft, einen Aufwand zu betreiben, um ein besseres Angebot zu erhalten. Der einst träge und wohlbehütete Energiekonsument wird mehr und mehr zum selbstbestimmenden Prosumer.
Die Themen Energie und Klimaschutz sind omnipräsent
Das Thema Energie ist ein fixer Bestandteil unseres Alltags geworden. Die Generation Z beispielsweise streikt für den Klimaschutz. Die jungen Erwachsenen, die sich auf dem Sprung in die Arbeitswelt befinden, beschäftigen sich intensiv damit, die Welt sauberer zu machen. So haben jüngst zum Beispiel Berner Gymnasiasten untereinander einen Eid abgelegt, während der gesamten Studienzeit auf Flüge verzichten zu wollen.
Einerseits zeigen solche Beispiele, dass den Kunden das Thema Energie immer wichtiger wird. Sie sind bereit, einen Beitrag zu leisten, auf Komfort zu verzichten und einen Mehraufwand in Kauf zu nehmen, um ein Produkt zu kaufen, dass ihrer Überzeugung entspricht. Die Digitalisierung ist in dieser Hinsicht eine gute Helferin. Sie hat die Informationsbeschaffung einfacher gemacht – was einen möglichen Anbieterwechsel viel leichter macht. Anderseits haben sich die Schweizer Stimmbürger mit dem Ja zur Energiestrategie 2050 dazu bekannt, künftig stark auf erneuerbare Energie zu setzen und sich von der Kernenergie zu verabschieden.
Vom Warenanbieter zum Lösungspartner
Die Bedürfnisse der Kunden werden für die Energieversorger zentral, denn diese werden der Kernpunkt sein, der die Zukunft des Energieversorgungsunternehmens bestimmt. Wer die Kundenbedürfnisse erkannt hat, stellt fest, dass Kunden heute mehr als nur Energiebezüger sein wollen. Sie suchen vielmehr nach einem vertrauensvollen Partner mit einem Rundum-sorglos-Paket für alle Themen, die mit Energie zu tun haben. Dabei erwartet er auch im Energiebereich den gleichen Service, wie er es von anderen Dienstleistungsangeboten längst gewohnt ist.
Zu Beginn war ein Wechsel des Anbieters noch mühsam. Dies bestätigt auch die Wechselrate. Doch das ist nun definitiv Vergangenheit: Deutschland verzeichnet von Jahr zu Jahr mehr Lieferantenwechsel. Das einst uninteressante Produkt Energie verwandelt sich also in ein charakteristisches Produkt. Gerade bei der jüngeren Bevölkerung ist eine hohe Wechselbereitschaft vorhanden. So haben gemäss einer Bevölkerungsbefragung von PWC im Jahr 2015 bereits 70% aller 18- bis 29-Jährigen in den vorangegangenen drei Jahren den Stromanbieter gewechselt.[1] Immer mehr Vergleichsportale tauchen auf – was der Konsument aus anderen Bereichen, wie beispielsweise dem Versicherungswesen, schon längst kennt und nutzt. Der Wechsel zu einem anderen Stromanbieter benötigt nur noch ein paar wenige Klicks.
2017 wechselten in Deutschland insgesamt 4,6 Millionen Haushalte ihren Stromanbieter, wovon 3,6 Millionen – also zirka 8,5% aller Haushalte – nicht aufgrund von Umzügen wechselten. Dies scheint auf den ersten Blick wenig. Vergleicht man diese Zahl allerdings mit der Quote der Krankenkassenwechsel in der Schweiz, die 2017 nur 7,9% betrug [3], sind die 8,5%, die ihren Stromanbieter wechseln, doch beträchtlich. Zumal der Marketingaufwand, um Versicherte zum Krankenkassenwechsel zu bewegen, enorm ist.
Energie als Emotionsobjekt wahrnehmen
Hat man beim Kauf eines Produkts eine Auswahl, dann wird dieser Kauf oft genutzt, um die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen. Die Marke wird zum eigenen Spiegel: vom Auto über das Essen bis hin zur Bank, der man sein Geld anvertraut. Mit ihrer Wahl geben Käufer ein Statement ab. Genau so verhält es sich in einem freien Strommarkt. Die Entscheidung, bei wem der Strom gekauft wird, spiegelt die Persönlichkeit des Käufers wieder. Der eine legt Wert auf erneuerbare Energien, der andere vielleicht auf eine bestimmte Produktionsart, wie zum Beispiel Wasserkraft. Ein Dritter wiederum konsumiert nur Strom aus lokaler Produktion, in die er selbst investiert hat und der sparsame Kunde hält dauernd nach dem günstigsten Angebot Ausschau und ist stolz auf jeden gesparten Franken. Über diesen Mechanismus wird ein einfaches Wirtschaftsgut wie Strom zu einem Objekt, das Emotionen und Persönlichkeit ausstrahlt.
Genauso, wie es für einen Autohersteller unmöglich ist, ein Produkt für jeden Typ Autofahrer zu haben, wird es nicht möglich sein, Produkte für jeden Typ Stromkunden anzubieten. Umso wichtiger ist, eine klare Strategie zu haben, um neben jenen Kunden, die man unweigerlich verlieren wird, auch neue zu gewinnen.
Die Meinung zu den Strategien sind gespalten
Mit der Strategie stellt das Energieversorgungsunternehmen (EVU) die Weichen für die nächsten Jahre. Es gibt kein richtig oder falsch für die gewählte Strategie. Nur keine Strategie zu haben, ist bestimmt nicht der richtige Weg. Nicht zuletzt spielt auch die Grösse des EVU eine entscheidende Rolle, welche Strategie verfolgt werden kann. Basierend auf der Ausgangslage, dass der Schweizer Energiemarkt bereits besteht und mit den Grundleistungen gesättigt ist, könnten mögliche Strategien wie folgt aussehen:
Geschäftsfeldstrategie: Bei dieser Strategie entstehen neue Geschäftsfelder – der Markt wird aufgeteilt. Hier braucht es einen Blick über den Tellerrand hinaus. Zu den herkömmlichen und bewährten Leistungen werden neue Produkte entwickelt oder sogar ganz neue Sparten ins Sortiment aufgenommen. Kooperationen mit lokalen und regionalen Marktpartnern können eine solche Einführung erleichtern und beschleunigen.
Differenzierungsstrategie: Die Herausforderung dieser Strategie liegt darin, sich mit einer Unique Selling Proposition (USP) von Mitbewerbern abzuheben. Es gilt, herauszufiltern, was das eigene EVU gegenüber anderen einzigartig macht für den Konsumenten.
Preis-Mengen-Strategie: Diese Strategieart basiert auf einem aggressiven Preiswettbewerb. Um trotzdem eine solide Wirtschaftlichkeit zu erlangen, wird diese Strategie oft in Kombination mit einer anderen eingesetzt. Zielgruppe dieser Strategie sind meist Käufer von Grundleistungen.
Gesamtmarkt- oder Teilmarktentwicklungsstrategie: Zielt der Fokus darauf ab, auch ausserhalb des gewohnten Versorgungsgebiets tätig zu sein, bietet sich die Gesamtmarkt- oder Teilmarktentwicklungsstrategie an. Diese zielt darauf ab, das heutige Marktvolumen (meist nur im eigenen Versorgungsgebiet) auf den gesamten Schweizer Markt zu erweitern. Das eröffnet einem EVU ganz andere Möglichkeiten und stellt das Nachfrage-Angebot-Verhältnis in komplett anderer Dimension dar.
Me-too-Strategie: Hier geht es darum, den Marktführer nachzuahmen. Nur: Gibt es im Schweizer Markt überhaupt einen Marktführer? In der Konsequenz bedeutet diese Strategie aber, dass man immer später als der andere mit neuen Produkten auf den Markt kommt und deshalb per se nur noch ein Teil des Marktes zur Bearbeitung verfügbar ist. Weiter ist diese Strategie kostenintensiv und meist nicht glaubwürdig.
Vertriebsstrategie: Mit der Vertriebsstrategie werden die Leistungen offensiv am Markt dem Kunden angeboten. Sofern heute noch kein aktiver Vertriebskanal besteht, muss berücksichtigt werden, dass diese Strategie eine personelle und organisatorische Veränderung bedingt.
Eine Strategie soll stets mit Weitblick entwickelt werden, nicht nur für die nächsten zwei, drei Monate, sondern für mehrere Jahre. Wichtig ist dabei, dass die Strategie zum Unternehmen passt, denn nur ein authentischer Auftritt wirkt ehrlich.
Den EVU-Kunden zum Botschafter küren
Letztlich wird eine solide Kundenbeziehung des EVU zum Energiebezüger die entscheidende Rolle spielen, ob der Kunde bleibt oder geht. Das ist aber nicht alles. Denn an oberster Stelle steht die Kundenzufriedenheit. Zufriedene Kunden sind Botschafter, welche die Entwicklung des EVU tragen – auch bei unpopulären Entscheidungen. Unzufriedene Kunden neigen dazu, sich zu Bremsern und Verhinderern zu entwickeln.
Das kann für ein EVU unliebsame Folgen haben, beispielsweise wenn mitten in einem dicht besiedelten Wohnquartier ein Netzausbau ansteht. Die Bauarbeiten verursachen Lärm, Schmutz und Verkehrsbehinderungen. Der wohlwollende Kunde zeigt unbestritten mehr Akzeptanz und Verständnis für den Ausbau als jener, der sowieso schon schlecht auf das EVU zu sprechen ist. Unter Umständen ist ein unzufriedener Kunde sogar bereit, Massnahmen zu ergreifen, um Projekte zu verzögern oder gar eine Umsetzung zu verhindern.
Solche Massnahmen können einen Energieversorger bei Zukunftsplänen stark einschränken und Mehrkosten verursachen. Deshalb ist es umso wichtiger, möglichst viele zufriedene Kunden zu gewinnen, und diese als «Botschafter» des Energieversorgers zu nutzen. Botschafter sorgen für gute Stimmung und sind bemüht, möglichst viele in ihrem Umfeld davon zu überzeugen – ohne direkten Beitrag vom EVU. Sie sind jene, die es schaffen, dass das EVU als wichtiger Dienstleistungspartner wahrgenommen wird.
Referenzen
[1] www.pwc.de/de/energiewirtschaft/assets/pwc-umfrage-energie.pdf.
[2] www.bundeskartellamt.de.
[3] www.comparis.ch/krankenkassen/wechsel/aktuelles/krankenkasse-wechselquote-2017.
Kommentare