Bei der Energiewende Gas geben
Globale Studie
Steht uns für die Transition zu einer nachhaltigen Energieversorgung überhaupt genügend Energie zur Verfügung? Empa-Forscher gingen dieser zentralen Frage nach – mit erstaunlichen Erkenntnissen.
Die Internationale Energieagentur IEA hat am 8. März 2022 mitgeteilt, dass die globalen, im Kontext der Energiebereitstellung entstandenen Kohlendioxidemissionen ein historisches Maximum erreicht haben: Gemäss der IEA-Analyse betrug im Jahr 2021 der Ausstoss 36,3 Gt. Die Emissionen stiegen um 6%. Der pandemiebedingte Rückgang schmolz also schnell dahin.
Diverse Faktoren trugen zu dieser rasanten «Erholung» des Energiemarkts bei: Höhere Erdgaspreise führten vor allem in China zur stärkeren Nutzung von Kohle zur Stromerzeugung und schlechteres Wetter liess den Verbrauch zusätzlich in die Höhe schnellen. Gleichzeitig erreichte auch die erneuerbare Stromproduktion einen Rekordwert, denn sie überstieg 8 PWh, bei einer Zunahme von 500 TWh. Fazit: Selbst ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien hat es nicht geschafft, den fossilen Verbrauch zu reduzieren.
Die kritische Situation der steigenden CO2-Emissionen motivierte Harald Desing und Rolf Widmer, Forscher der Empa St. Gallen, sich eine grundsätzliche Frage zu stellen. Rolf Widmer erläutert: «Wir haben uns überlegt, was die richtige Strategie ist, wenn man ein knappes Kohlenstoffbudget hat. Können sich die Erneuerbaren selber erzeugen? Oder nimmt man diese Energie aus dem Restbudget an fossilem Kohlenstoff?» Diese Frage, bei der gesellschaftliche, ökonomische und materialtechnische Aspekte bewusst ausgeblendet wurden, führte zu drei Papers: Paper [1] befasst sich mit der schnellstmöglichen Transition zu einem nachhaltigen Energiesystem. Paper [2] präsentiert ein Dreimaschinenmodell zur Wiederherstellung eines langfristig bewohnbaren globalen Klimas und Paper [3] geht der Frage nach, wie viele Speicher man sich bei einem nachhaltigen Energiesystem energetisch leisten kann, um Erzeugung und Verbrauch in Einklang zu bringen.
Das Klimarisiko schnell reduzieren
Unter der Annahme, dass der globale Energieverbrauch stabil bleibt, wird im ersten Paper untersucht, wie potenziell dramatische und irreversible klimatische Auswirkungen mit einer möglichst schnellen Transition zu einem nachhaltigen Energiesystem vermieden werden können. Da ein Umbau des Energiesystems selbst Energie braucht, wird analysiert, ob dieser Umbau energetisch realisierbar ist. Die Simulationen lieferten ein erfreuliches Ergebnis: Ja, es ist genügend Energie für eine schnelle und vollständige Transition vorhanden, die die Wahrscheinlichkeit einer 1,5°C-Klimaerwärmung deutlich unter 50% senkt. Dieses Ziel ist ambitionierter als die Szenarien des Special Report der IPCC.
Für die Transition setzt die Studie auf den Ausbau der Photovoltaik auf bereits verbauten Flächen. Unverbautes Land muss nicht genutzt werden, um alle fossilen Energieträger durch PV zu ersetzen. Wüstenland könnte zur Not beigezogen werden, aber es geht auch ohne. Zudem wird der Strom durch das Bauen auf Häusern dort erzeugt, wo er auch genutzt wird. So wird der Bedarf für neue Stromleitungen minimiert.
In den Simulationen werden zwar alle bestehenden Erneuerbaren wie Wasserkraft, Windkraft und Geothermie berücksichtigt, aber alle künftigen Investitionen gehen exklusiv in den Ausbau der Photovoltaik – mit dem heute verfügbaren Wirkungsgrad. Rolf Widmer begründet diesen Entscheid: «Mit PV ist man auf der sicheren Seite bei der Skalierung. Ob man Solarthermie oder Photovoltaik zum Aufbereiten des Warmwassers einsetzt, ist bezüglich Wirkungsgrad etwa gleich, deshalb haben wir PV angenommen.» Die anderen Erneuerbaren werden für den Ausbau nicht berücksichtigt, denn ihr Potenzial ist entweder fast ausgeschöpft (Wasserkraft) oder zu klein (Windkraft, Geothermie).
Gemäss der Studie würden 70% der global verbauten Flächen für die Transition ausreichen – bei einem Energy Return on Investment (EROI) von 20. Dieser für die Schweiz hohe Wert lässt sich gemäss Harald Desing für Dachinstallationen im Sonnengürtel, in dem 90% der Menschheit leben, gut erreichen. In Gegenden, die vom Äquator weiter entfernt sind, würde es sich auch lohnen, Fassaden zu nutzen, denn da ist der Winterertrag meist höher als beim Dach. Für Marcel Gauch, der im gleichen Team wie Harald Desing und Rolf Widmer forscht, ist dies ein willkommener Ausgleich von Sommer und Winter: «Die ästhetischen Bedenken zählen heute nicht mehr, denn man kann kaum unterscheiden, ob eine Hausverkleidung Strom produziert oder nicht».
Wie schnell geht es?
In den Simulationen wurde untersucht, wie schnell die Transition möglich wäre, wenn der PV-Zubau durch den Einsatz von fossilen Energieträgern beschleunigt würde. Das Überraschende: Ein «Aufdrehen» der Fossilen ausschliesslich zum Beschleunigen des Aufbaus der erneuerbaren Infrastruktur wirkt sich fürs Klima positiv aus. Wenn die ungenutzte Kapazität der fossilen Quellen für den Ausbau der PV-Installation genutzt würde, wäre die Transition in weniger als einem Jahrzehnt möglich und man könnte die fossilen Quellen abstellen. Der kumulierte CO2-Ausstoss ist dabei geringer als für eine graduelle Transition, welche den fossilen Output nur gering erhöht.
Eine so schnelle Umstellung des Energiesystems schien bisher nicht salonfähig. Dadurch, dass der Ukrainekrieg die geopolitischen Abhängigkeiten drastisch aufgezeigt hat, könnte es aber nun zum Umdenken kommen. Harald Desing betont: «Wenn man es schafft, vom Druckmittel der fossilen Energien wegzukommen – und die Studie zeigt, dass es zumindest energetisch in sehr kurzer Zeit geht –, würde man sich geopolitisch unabhängig machen. Nun sind die Leute plötzlich für einen schnellen Ausstieg empfänglich.»
Die Kohle zurück in die Erde stecken
Will man das Klima in einen langfristig stabilen Bereich bringen, genügt aber eine Umstellung auf Erneuerbare alleine nicht, denn bereits heute liegt die Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre bei 420 ppm – statt bei 350 ppm, einem Wert, der als relativ ungefährlich betrachtet wird. Rolf Widmer: «Die grosse Aufgabe ist die Stabilisierung der Atmosphäre. Wir müssen den Kohlenstoff in die Erde bringen. Wenn man annimmt, dass man 350 ppm erreichen muss, damit die Arktis noch Sommereis hat, müssen wir 1500 Gt aufräumen.»
Diesem Thema ist Paper [2] gewidmet. Es modelliert das Energiesystem mit drei Maschinen: einer «fossil engine», einer «solar engine» und einem «carbon scrubber» (Carbon Capture and Storage, CCS, und Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS – im Folgenden vereinfachend als CCS bezeichnet). Mit dem Modell wollen die Forscher herausfinden, mit welcher PV-Kapazität man möglichst schnell zu einer akzeptablen CO2-Konzentration kommt.
CCS-Technologien, die die nötigen Mengen bewältigen können, gibt es noch nicht. Zur weltweit grössten CCS-Anlage sagt Rolf Widmer: «Das, was ClimeWorks jetzt in Island macht, das CO2 in einem Olivin oder Basalt zu speichern, kann man mal mit einer Megatonne probieren, das ist nicht einmal Proof-of-Concept. Die benötigten CCS-Infrastrukturen würden die Grösse der heutigen Öl- und Gasindustrie erreichen. Das baut man nicht über Nacht.» Klar ist, dass eine Reduktion des Energiebedarfs die Aufräumaktion beschleunigt und dazu beiträgt, dass die angepeilten 350 ppm – bei entsprechendem Ausbau der CCS-Infrastruktur – bis 2100 erreicht werden könnten.
Marcel Gauch schildert die Capture-Problematik so: «Man versucht, das stark verdünnte CO2 wieder einzusammeln. Diese unglaubliche Verdünnung sorgt dafür, dass der Energiebedarf, um es wieder rauszuholen, extrem hoch ist. Zudem ist es schwierig, an Informationen zum Energiebedarf von CCS zu kommen. Meistens sieht man nur einen Teilbereich, z. B. die Lüfter. Die Energie, um die Filter zu erhitzen, wird oft nicht erwähnt.» Das Publikum nimmt CCS als grosse Option wahr, Investoren stellen Firmen bereitwillig Geld zur Verfügung, aber man kann noch nicht abschätzen, ob es energetisch überhaupt aufgeht.»
Das Fazit der Studie: Es ist in diesem Jahrhundert aus energetischer Sicht zwar möglich, das Energiesystem weltweit nachhaltig zu machen und die atmosphärische CO2-Konzentration unter 350 ppm zu senken. Dies erfordert aber eine Reduktion des Durchschnittsverbrauchs pro Person auf rund 600 W, also rund einem Zehntel des Schweizer Verbrauchs, bis die gewünschte CO2-Konzentration erreicht ist. Sobald das Klima stabil ist, kann der Verbrauch wieder erhöht werden. Aber in dieser Transitionszeit ist eine Verbrauchsreduktion zentral. Man hat so mehr Energie für den Aufbau von PV zur Verfügung und beschleunigt so die Transition.
Zudem ist es wichtig, in der Transitionsphase möglichst wenig Energiespeicher zu bauen, denn sowohl ihr Bau als auch ihr verlustbehafteter Betrieb erfordern Energie. Verbrauchsmuster, die sich nach dem Tages- und Jahresgang der erneuerbaren Energiequellen richten, sollten etabliert werden, um den Bedarf an Speicher zu verringern. West-Ost- bzw. Nord-Süd-Übertragungsleitungen können den Tages- und Jahresgang ebenfalls ausgleichen und somit Speicher ersetzen.
Die Sonnenblumengesellschaft als Optimum
Problematisch ist bei Energiespeichern, dass sie viel Energie brauchen – sei es für ihren Bau (Akkus, Speicherseen) oder für ihren Betrieb (schlechter Wirkungsgrad der Umwandlungsprozesse bei synthetischen Treibstoffen). Deshalb untersucht Paper [3] die energetische Situation der drei Speicher Lithium-Ionen-Batterien, Pumpspeicherkraftwerke und synthetischem Methan. Es kommt zum Schluss, das eine Anpassung des Verbrauchsmusters an die erneuerbare Erzeugung die Transition erheblich beschleunigen kann und damit die kumulierten Emissionen reduziert. Daher sollten grosse Lasten so genutzt werden, dass der Nacht- und Winterverbrauch minimiert werden.
Marcel Gauch sagt: «Als Volkswirtschaft kann man es sich nicht leisten, auf eine weniger effiziente Technologie zu setzen, nur um weiterhin den Handel mit einem Stoff [wie synthetischen Treibstoffen] betreiben zu können. Die Gesellschaft muss sich gut überlegen, ob sie sich diese Ineffizienz leisten möchte.»
Ein lenkendes Verteilnetz
Die Frage, wie denn künftig Angebot und Nachfrage bei einem hohen Anteil an fluktuierendem Solarstrom abgeglichen werden sollen, wird in den Papers nicht behandelt. Im Gespräch schlagen die Forscher ein Verteilnetz mit Packetized Energy Management (PEM) als einen möglichen Ansatz vor – ein Stromnetz, das ähnlich wie das Internet funktioniert. Dabei senden geeignete Verbraucher wie Boiler oder Elektrofahrzeuge Anfragen ans Netz, ob eine gewisse Leistung für eine gewisse Zeit zu einem bestimmten Preis zur Verfügung steht. Je kritischer der Bedarf, desto häufiger werden die Anfragen geschickt. Der PEM-Koordinator berücksichtigt die Anfragen nach dem Zufallsprinzip so, dass die Gesamtlast in Echtzeit definiert wird, ohne das Verhalten einzelner Verbraucher verändern zu müssen. Sollte die Kommunikation bei gewissen Geräten einmal gestört sein, dass ihre Anfragen den Koordinator nicht erreichen, können solche Geräte auf ein allgemeines Signal des Koordinators warten, das ein Einschalten erlaubt.
Drei Aspekte werden dabei berücksichtigt: der Netzzustand, der Energiemarktzustand und der Zustand der Pakete. Je mehr Geräte an diesem System teilnehmen, desto genauer kann die Last der Erzeugung folgen. Das Packetized Energy Management würde Spitzen abschwächen, Lastprofile anpassen, die Nutzung erneuerbarer Energien optimieren und den Speicherbedarf minimieren.
Kurz und schmerzvoll – aber möglich
Die vorgestellten Papers präsentieren ein Bild, bei dem mit existierenden Technologien eine weltweite Transition zu einem nachhaltigen Energiesystem aus energetischer Sicht möglich ist. Dafür ist aber eine Bereitschaft nötig, in dieser Übergangszeit den Verbrauch drastisch zu drosseln, um die Transition rasch abschliessen und um sich dann auf das «Aufräumen» der Atmosphäre machen zu können. Viele Fragen sind noch offen, aber das präsentierte Bild ist ein guter Ausgangspunkt für detailliertere Untersuchungen, für Effizienzoptimierungen bei der Photovoltaik – sowohl bei der Modulkonstruktion als auch beim Wirkungsgrad – und für Weichenstellungen bezüglich möglichst effizienter Energietechnologien, beispielsweise in der Mobilität durch die Wahl von Elektrizität statt synthetischen Kraftstoffen oder Wasserstoff.
Referenzen
[1] Harald Desing, Rolf Widmer, «Reducing climate risks with fast and complete energy transitions: applying the precautionary principle to the Paris agreement», Environ. Res. Lett. 16, 2021.
[2] Harald Desing, Andreas Gerber, Roland Hischier, Patrick Wäger, Rolf Widmer, «The 3-machines energy transition model: exploring the energy frontiers for restoring a habitable climate», Empa, bisher unveröffentlicht, www.doi.org/10.31219/osf.io/fcwt8
[3] Harald Desing, Rolf Widmer, «How much energy storage can we afford? On the need for a sunflower society, aligning demand with renewable supply», Empa. Das Paper wurde durch das Journal «Biophysical Economics and Sustainability» akzeptiert und wird dort in Kürze erscheinen.
Kommentare
Stefan Roth,
Es zweifelt niemand daran, dass das technisch möglich ist. Wie das allerdings gesellschaftlich mit demokratischen Prozessen innert nützlicher Frist geschehen soll, steht meines Wissens bis heute in den Sternen.