Automatisierung
Sich nicht vom Industrie-4.0-Hype blenden lassen
Die Digitalisierung ist nur ein Aspekt, um eine Produktion wettbewerbsfähiger zu machen. Konventionelle Faktoren wie die Bereinigung der Modellpalette können entscheidender sein.
Als Antwort auf die Abwanderung von Produktionseinheiten ins Ausland wurde 2011 durch die deutsche Regierung die Initiative «Industrie 4.0» lanciert. Sie soll die Entwicklung neuer Technologien zur Vernetzung und Digitalisierung der Fabriken voranbringen und so den Produktionsstandort stärken. Will man die Produktion in Westeuropa behalten, so heisst es, kommt man um Industrie 4.0 nicht herum. Nun, die Realität spricht momentan eine andere Sprache: Innovative und rentable Firmen haben in den letzten Jahren eigene Standorte in Osteuropa und Asien auf- und ausgebaut. Nebst dem starken Franken zählen auch die Lohnkosten, die Kundennähe und die Erschliessung neuer Märkte eine Rolle.[1] Da man mit Produktionsverlagerungen bereits Erfahrungen gesammelt hat, sind die Verschiebungen oft schnell und erfolgreich. Die digitale Vernetzung macht es sogar einfacher, Produktionslinien zu verlagern, denn man kann sie aus der Ferne überwachen und Fertigungsdaten übermitteln. Die geografische Distanz schrumpft so.
Nicht nur unter Anbietern gehen die Meinungen darüber auseinander, was man unter dieser vierten industriellen Revolution konkret verstehen soll. Gemäss einer 2016 durchgeführten Swissmem-Umfrage gibt es schätzungsweise 200 Definitionen von Industrie 4.0. An der diesjährigen Hannover-Messe haben rund 500 Anwendungsbeispiele den Nutzen der Digitalisierung für die Industrie aufgezeigt. Einige Beispiele mögen bahnbrechend sein, manche eher eine Evolution statt eine Revolution darstellen. Man findet auch «Altes in neuem Gewand», d.h. bewährte Lösungen, die schon länger eingesetzt werden: Kombinationen aus RFID, Ethernet, WLAN und Sensorik werden nun als Industrie-4.0-Lösungen präsentiert. Diese Vielfalt mag verwirrend sein, kann aber auch als Chance betrachtet werden, sich auf spezifische Produktionsfragen zu konzentrieren, statt eine komplette Digitalisierungslösung anzustreben.
Welche Rolle spielt die Industrie 4.0 eigentlich heute in Unternehmen, die erfolgreich produzieren? Aufschlussreich ist hier ein Blick in ein Schweizer Traditionsunternehmen, das eine kritische Situation gemeistert hat.
Stabile Eleganz
Ende des letzten Jahrhunderts stand die 1880 in Horgen gegründete Möbelfabrik Horgenglarus fast vor dem aus. Der Glarner Unternehmer und Politiker Markus Landolt wollte den Untergang des Unternehmens aber nicht einfach hinnehmen und erwarb die massiv überschuldete Firma. Seine Motivation: «Die grosse Fertigungstiefe, die zahlreichen qualifizierten Arbeitsplätze und damit das gewaltige Know-how wären unwiederbringlich verloren gegangen und der Kanton Glarus und die Schweiz um ein wirtschaftshistorisches Kulturgut ärmer geworden.»
Seine Vision: Die Schaffung eines eigenständigen Profils durch eine radikale Bereinigung der Modellpalette und den Einbezug renommierter Designer für neue Produkte. Gleichzeitig wurde trotz Schulden in moderne 5-Achs-CNC-Frästechnologie investiert. Diese Kombination aus hohen Designwerten, traditioneller Handarbeit, moderner Technologie und der Verwendung eines nachhaltigen Materials, Holz aus dem Jura, wurde via Marketing kommuniziert. Die bequemen, leichten und schönen Stühle weckten bei den Käufern die erhofften Emotionen, die Nachfrage stieg und die Situation des Unternehmens verbesserte sich sukzessive. Die Zahl der Beschäftigten konnte verdoppelt werden und die Firma steht wieder solide da. 20 000 Stühle jährlich zeugen heute davon, dass die Vision Realität geworden ist.
Auf Industrie 4.0 als Erfolgsfaktor angesprochen, betont Landolt, dass Tradition alleine heute oft nicht mehr genügt. Innovation sei nötig: «Das eine tun, das andere nicht lassen.» Werden moderne Fertigungsmethoden gezielt eingesetzt, entstehen neue Chancen. Er konkretisiert diese Aussage: «Beispielsweise wurde es möglich, dass die Stararchitekten Herzog & de Meuron in Basel an ihren Computern Stuhlelemente gestalteten und die Daten digital direkt auf das CNC-Fräscenter von Horgenglarus übermittelten». So entstanden nach handwerklichem Finish die einzigartigen Holzstühle für das Volkshaus Basel – jeder der 100 Stühle hat eine individuelle Rückenlehne.
Nachdem einige Investoren bei Markus Landolt Interesse am wieder florierenden Unternehmen zeigten, entschloss er sich 2011 zum Verkauf an die Familie von Nordeck – einem Käufer mit nachhaltiger Perspektive – und übergab nach einer Übergangszeit im Oktober 2012 die Führung an Marco Wenger.
Präzise Klangfacetten
Ein weiteres KMU, bei dem eine in Jahrzehnten ausgereifte Produktionserfahrung mit neuen Ideen und hohen Qualitätsansprüchen kombiniert wird, ist Paiste. Das seit 1957 im luzernischen Nottwil beheimatete Familienunternehmen stellt Schlagzeug-Becken, Cymbals, für den globalen Markt her. Als Erfolgsfaktoren bezeichnet Erik Paiste das Image der Marke, die kontinuierlich hohe Qualität, langjährige Tradition sowie gewisse Alleinstellungsmerkmale in der Produktepalette. Die Fertigung ist aufgeteilt auf preisgünstige Becken, die maschinell gefertigt werden, Becken im mittleren Preissegment, bei denen gewisse Arbeiten von Hand ausgeführt werden und die Top-Class-Produkte, die vorwiegend manuell hergestellt werden. Um körperlich anstrengende Arbeiten zu minimieren und den Handwerkern zu ermöglichen, sich auf die feinen Arbeiten konzentrieren zu können, werden unterstützende Maschinen eingesetzt wie z.B. pneumatische Hämmer, bei denen alle Gliedmassen gleichermassen involviert sind: Die Führung mit den Händen bestimmt den Aufschlagpunkt des Hammers, die Anschlagkraft und der Hammerzeitpunkt werden mit Fusspedalen gesteuert.
Dennoch wird die Digitalisierung bei Paiste als grosse Chance betrachtet, vorwiegend im Bereich der Kommunikation: im Verkauf, im Marketing und in der Kundenbetreuung. Durch die Vernetzung via Social Media ist nun aus einer Einweg-Kommunikation ein Dialog mit den Kunden entstanden, der eine neue Nähe schafft und das Firmenimage stärkt.
Aber auch in der Post-Produktion wird Digitalisierung eingesetzt. Arbeitskarten zu Produktionschargen sind mit Barcodes zu den Arbeitsschritten versehen. Mitarbeiter registrieren sich mit Badge und Barcode bei jedem Arbeitsschritt. Somit ist der Stand jeder Produktionscharge zu jeder Zeit bekannt, und es lässt sich zurückverfolgen, wer die Arbeiten verrichtet hat. Dies ist wesentlich für die Qualitätskontrolle.
Die Produktion optimieren
Diese Beispiele zeigen, dass mehrere Faktoren für den Erfolg zentral sind: hochwertige Produkte und eine optimierte Produktion. Letztere wurde in einem Interview mit dem Fabrikplaner Oliver Lieske thematisiert.[2] Er arbeitet vorwiegend für Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau, Automobilzulieferer sowie Hersteller aus der Kosmetik-, Fashion- und Lebensmittelindustrie und ist somit vertraut mit einem breiten Spektrum von Fertigungsbetrieben. Für ihn ist es wichtig, dass Fabriken möglichst einfach, transparent und weitsichtig gestaltet werden. Sie müssen zudem genügend flexibel geplant sein, um künftige Entwicklungen berücksichtigen zu können. Die Automatisierung und Vernetzung von Produktionsschritten – Industrie-4.0-Ansätze – sollten zielorientiert geschehen. Die Massnahmen müssen produktiv einen Vorteil bewirken und in einem ausgeglichenen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen. Er betont: «Erst wenn man bei der Prozessoptimierung und Komplexitätsreduktion an Grenzen stösst, schaut man, ob Ansätze von Industrie 4.0 und Digitalisierung bzw. Vernetzung helfen, die Fertigung weiterzuentwickeln. Niemand sollte sich vom Industrie-4.0-Hype blenden lassen, wenn dadurch kein Mehrwert garantiert wird.»
Zudem macht Lieske auf zwei wichtige, aber oft vernachlässigte Aspekte aufmerksam: auf die Bedeutung der Bedürfnisse von Mitarbeitenden (Ergonomie, Licht usw.) und der peripheren Produktionsprozesse. Oft setzt man sich zwar intensiv mit der Planung der direkten technischen Prozesse auseinander, vernachlässigt dabei aber die Produktionslogistik. Auch den Unterstützungs- und Nebenbereichen, wie Qualitätssicherung, Instandhaltung, Werkzeuge, die auf die Produktionsprozesse abgestimmt sein sollten, wird oft weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Lieske konstatiert: «Erst die ganzheitliche konsequente Ausplanung aller Bereiche eines Produktionswerks führt zu einer hohen Effizienz im späteren Betrieb.»
Digital anbieten und verkaufen
Abgesehen von den Einsatzgebieten der Digitalisierung in der Fabrik findet die digitale Vernetzung heute meist beim Kundenkontakt statt. Produkte werden vermehrt online präsentiert und bezogen: manchmal durch Hersteller, die ihre Unikate direkt anbieten, wie der Taschenhersteller Freitag, oder die Online-Konfigurierung von Gestellen ermöglichen, wie USM Haller. Online-Händler wie Amazon bieten nebst den gesuchten Produkten auch Bewertungen an, die Enttäuschungen (und den energetischen Aufwand für die Rücksendung) vermeiden können oder verwandte Entdeckungen ermöglichen. Natürlich besteht bei dieser Art von Data Mining die Gefahr, dass man sich immer um Bekanntes dreht und andere Entdeckungen nie machen kann. Aber der Erfolg gibt dieser Methode recht. Diese Art der Digitalisierung kann logistische Prozesse vereinfachen, ein Nachverfolgen der Ware ermöglichen und die Lagerhaltung und Fertigung verschlanken.
Transaktionen ohne Mittelsmänner
Die Digitalisierung dürfte bald weitere Bereiche ausserhalb der eigentlichen Fertigung neu gestalten. Verfahren wie Blockchain könnten durch eine global verteilte Datenbank und ausgefeilte Sicherheitsmassnahmen komplexe Transaktionen deutlich effizienter machen, weil Mittelsmänner überflüssig würden. Man würde Zeit und Kosten sparen.
Blockchain könnte z.B. finanzielle Transaktionen und Zollformalitäten automatisieren und so den internationalen Warentransport beschleunigen und vereinfachen. Die Technologie ermöglicht das Digitalisieren der Vertragsbedingungen, die anschliessend mit Sensoren (Internet der Dinge) während des Transports überprüft werden können. Die finanziellen Entgelte von nicht erfüllten Transportbedingungen (Preisnachlass bei überschrittener Transporttemperatur) können automatisch ausgeführt werden. Gleichzeitig können die Sensorwerte den Einsatz der Kühlenergie optimieren. Ein vielversprechender Ansatz, der Märkte aufmischen könnte, denn er ermöglicht auch kleine Transaktionen, die sich früher nicht gelohnt hätten.
Urbane Fertigung
Kombiniert mit emissionsarmen Fertigungsverfahren wie additiver Fertigung und einer Miniaturisierung bei Produkten könnte die Digitalisierung für einen weiteren Trend sorgen: für die Verlagerung gewisser Firmen aus der industrialisierten Agglomeration in die Städte. Zudem könnten sich Start-ups von Anfang an für urbane Standorte entscheiden. Vor Jahrzehnten konnte man die umgekehrte Entwicklung beobachten: Die energieintensive und emissionsstarke Industrie zog an die städtische Peripherie. Dort gab es genügend preisgünstigen Platz für Hallen, der Lärm störte nicht und die energetische und logistische Anbindung war einfacher als in Innenstädten.
Durch den Umzug in die Stadt profitieren Unternehmen von der Nähe zu kreativen und wissenschaftlich-technologischen Akteuren und leisten einen Beitrag zu tagsüber belebteren Quartieren. Sicherheit und Wohlbefinden steigen, die Lebensqualität wird durch kürzere Arbeitswege erhöht. Schliesslich ist man auch näher bei den Kunden und kann den direkten Kontakt in die Erweiterung oder Bereinigung der Produktepalette nutzen, z.B. durch ein unverbindliches Vorstellen von Prototypen. Als Herausforderungen können die Flächenknappheit, Konflikte mit Nachbarn und die Verkehrsbelastung durch Lieferverkehr erwähnt werden. Die Durchdringung, d.h. das Zusammenführen von Lebens- und Arbeitsfunktionen verspricht eine höhere Nachhaltigkeit und eine gesündere Stadt. Einige solcher urbanen Produktionsstätten wurden bereits in Berlin erfolgreich umgesetzt.[3]
Referenzen
[1] Charlotte Jacquemart, «Schweizer Industrie steht vor einer Welle von Produktionsverlagerungen», NZZ, 2.2.2015; Dominik Feldges, «Produktionsverlagerungen aus der Schweiz», NZZ, 16.4.2016.
[2] www.vdi-nachrichten.com/oliverlieske
[3] Anne-Caroline Erbstösser, Produktion in der Stadt – Berliner Mischung 2.0, Technologie Stiftung Berlin, 2016.
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