Fachartikel IT für EVU

Automation für die Energiewende

Stabilisierung des Stromnetzes

11.08.2023

Netzbetreiber sind für die Stabilität des Strom­netzes verant­wortlich. Der steigende Strom­bedarf durch die Elektri­fizie­rung weiterer Sektoren wie Heizung oder Mobilität sowie die Zunahme der Anteile von Wind- und Sonnen­energie machen dies zuneh­mend anspruchs­voll. For­schende stellen nun Lösungen vor, die helfen, diese Heraus­forde­rung zu meistern.

Im Zuge der Energiewende wird die konventionelle Strom­erzeugung aus fossilen und nuklearen Quellen schrittweise durch Wind- und Solarenergie ersetzt. Dies hat zwar viele Vorteile, stellt aber auch grosse Heraus­for­derungen dar – ins­be­son­dere für die Netzbetreiber. Ihre Aufgabe, die zuverlässige Versorgung von Haushalten und Industrie sicherzustellen, wird immer komplexer. Forschende der ETH Zürich und des Nationalen Forschungs­schwer­punkts (NFS) Automation präsentieren Lösungen, die helfen, diese Heraus­for­derung zu meistern.

Essenzielle Dienstleistungen

«Derzeit tragen konven­tionelle Kraftwerke wie Wasser-, Kohle- und Gaskraft­werke dazu bei, das Stromnetz stabil zu halten», erklärt Ognjen Stanojev, Forscher am Power Systems Laboratory der ETH Zürich und Mitglied des NFS Automation. «Durch die Anpassung ihrer Leistung und die in den massiven, rotierenden Turbinen gespeicherte Energie sorgen diese Kraftwerke für eine nahezu konstante Frequenz und Spannung im Stromnetz.» Damit das Netz zuverlässig funktioniert, sind diese Leistungen unabdingbar – vor allem in kritischen Situationen, etwa wenn eine Stromleitung oder ein Kraftwerk ausfällt.

Derzeit nutzen Netzbetreiber Energie­ressourcen wie PV-Anlagen, Batterien oder flexible Lasten wie Wärme­pumpen selten gezielt zur Stabili­sierung des Stromnetzes. Bisher war das auch nicht nötig. «Konven­tionelle Kraftwerke haben diese Leistungen bisher kostengünstig erbracht», erklärt Stanojev. «Doch mit der Umstellung von fossilen Brennstoffen und Kernenergie auf erneuerbare Energie­quellen wie Wind und Sonne verlieren wir Kompo­nenten, die für die Stabilität des Systems wichtig waren. Stattdessen müssen wir Lösungen finden, damit die neuen Energie­ressourcen den Betrieb übernehmen können.»

Ein Konzept für die Kombination diverser Energie­ressourcen

PV-Anlagen oder Batterien sind oft über viele Standorte verteilt – wie Haushalte und Industriegebiete. Um jedoch vergleichbare Stabilitätsleistungen zu erbringen wie grosse, zentralisierte Gas- oder Kohlekraftwerke, müssen diese verteilten Ressourcen gemeinsam koordiniert werden.

«Der Vorteil dieser Ressourcen ist, dass die einzelnen Komponenten ihre Leistung sehr schnell ändern können. In früheren Forschungs­arbeiten wurde daher bereits untersucht, wie bestimmte Arten von Komponenten, häufig Batterien, zur Erbringung einzelner spezifischer Stabilitäts­leistungen eingesetzt werden können. Doch die Kombination mit anderen Arten von Ressourcen, etwa PV-Anlagen oder Wärmepumpen, und die Bereitstellung verschiedener Arten von Stabilitäts­diensten ist eine ziemliche Heraus­forderung und wurde bisher nur selten versucht», erklärt Stanojev. «Wir wollten daher ein solches ganzheitliches Konzept entwickeln, in dem jede Art von Ressource verschiedene Stabilitäts­dienst­leistungen erbringen kann.»

Der Standort ist entscheidend

Dieses von den Forschenden entwickelte Konzept basiert in einem ersten Schritt auf genauen und regelmässigen Echtzeitmessungen des Zustands des Verteilnetzes. Die Messungen von Spannung und Frequenz dienen als Input für ein Softwaremodul, das sich in der Leitstelle des Verteilnetz­betreibers befindet. «Unser Software­modul berechnet und sendet dann automatisch die erforderlichen Einschalt­signale an die Ressourcen­kompo­nenten im Netz – etwa eine Anweisung an eine Batterie, Energie in das Netz einzuspeisen», erklärt Stanojev.

Die Forschenden stellten fest, dass die Stabilitätsdienste, die die Energie­ressourcen im Verteilnetz erbringen können, durch die Übertra­gungs­kapazität der Strom­leitungen limitiert sind. Das ist bei den Diensten, die konventionelle Kraftwerke auf der Ebene des Über­tragungs­netzes erbringen, normaler­weise nicht der Fall. «Der Standort einer Batterie oder einer Wärmepumpe innerhalb des Netzes ist daher entscheidend für ihr stabilitäts­förderndes Potenzial. Je weiter sie von zentralen Anschlusspunkten entfernt sind, desto geringer ist das Potenzial», so Stanojev. Der nächste Schritt ist die Umsetzung und Erprobung des Systems in der Praxis.

Eine erste Umsetzung in der Praxis

Ein ähnliches Forschungs­projekt, das am Institut für Automatik der ETH Zürich entwickelt wurde, befindet sich genau in diesem Stadium und wurde erfolgreich im Verteilnetz des Kantons Aargau implementiert. Dort regelt es die Blindleistung einer grossen PV-Anlage auf dem Dach mehrerer Industrie­gebäude, um den örtlichen Verteilnetzbetreiber AEW bei der Bereitstellung von Stabilitäts­diensten für sein Netz zu unterstützen. Wie die Methode von Stanojev ist auch sie auf Messwerte aus dem Netz angewiesen und kann stabilitäts­fördernde Einspeise­signale für Energie­ressourcen berechnen. «Unsere Methode befasst sich jedoch nicht mit der Steuerung der Frequenz, was uns ermöglicht, mit weniger Modell­informa­tionen zu arbeiten», erklärt Lukas Ortmann, Forscher an der ETH Zürich und Mitarbeiter des NFS Automation. «Zudem ist sie weniger rechen­intensiv, was den Einsatz in der Infrastruktur der Netzbetreiber erleichtert.»

«Die Implemen­tierung des im Dezember in Betrieb genommenen Blind­leistungs­reglers soll uns nicht nur helfen, die Blindleistung und Spannung lokal zu regeln, sondern auch den Blind­leistungs­austausch mit dem vorgelagerten Netzbetreiber zu beeinflussen, wenn man an einen flächendeckenden Rollout denkt. Als Nebeneffekt können Netznutzungskosten für die Blind­leistungs­beschaffung eingespart werden, was wiederum eine neue Dienstleistung für PV-Anlagenbesitzer am AEW-Netz eröffnen könnte, wenn sie ihre Anlage für diese Regelung zur Verfügung stellen», so AEW-Ingenieur Alessandro Scozzafava.

«Das Team testet seine Forschungs­ergebnisse in der realen Umgebung und überträgt sie so in die Praxis. Die erfolgreiche Demonstration in einem Stromnetz zeigt, dass die Methode für die Anwendung im Netzbetrieb relevant ist. Auch andere Heraus­for­derungen im Stromnetz und wichtige Erweiterungen des hier gezeigten Anwen­dungs­falls können mit dieser Methode angegangen werden. Ich sehe grosses Potenzial in der Anwendung solcher daten­getriebener Methoden, die auf Messungen und erweiterbaren Opti­mierungs­algo­rithmen basieren», sagt Mathias Duckheim, Senior Key Expert bei Siemens.

Literatur

 

Der Autor hat den Artikel als Kommunikationsverantwortlicher der ETH Zürich verfasst, wo er bis Ende 2022 tätig war.
Autor
Arian Bastani

ist Stv. Leiter Corporate Publishing.

  • Universität Bern, 3012 Bern

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