Aufbau von Resilienz bei EVUs
Analyse und Planung
Externe Risiken wie Cyberangriffe und Abhängigkeiten können die Existenz von Unternehmen schnell bedrohen. Durch den Aufbau von Resilienz können Firmen Handlungsspielraum und Selbstbestimmung gewinnen, um sich gegen Bedrohungen zu schützen. Das Beispiel eines EVU zeigt, wie sich Unternehmen damit zukunftsfähig machen.
Bis 2020 bewegte sich der Schweizer Energiemarkt in ruhigem Fahrwasser. Dann überstürzten sich die Ereignisse: Corona erforderte rasches Handeln, die russische Invasion der Ukraine verursachte starke Preisschwankungen und eine Ressourcenverknappung. Um einen Flächenbrand zu verhindern, aktivierte der Bundesrat Ende 2022 einen Rettungsschirm über 4 Mia. CHF, nachdem dem Stromkonzern Axpo Liquiditätsengpässe drohten und er Bundeshilfe anforderte. Axpo wird, zusammen mit Alpiq und BKW, als systemrelevant angesehen, und kann auf gesetzlich abgesicherte Bundeshilfe zählen [1]. Für alle anderen EVUs besteht diese Absicherung nicht, obschon sie den gleichen Entwicklungen ausgesetzt sind.
Schon seit Jahren verfolgt i-Risk GmbH diese Entwicklungen in der Energiebranche an der Seite vieler EVUs. Eine regelmässig angelegte Studie zeichnete die Turbulenzen der letzten drei Jahre deutlich nach. Die Risikoexposition, also die Angriffsfläche von bekannten Risiken, hat sich in der Summe auch in den letzten zwölf Monaten erhöht. Eine genauere Betrachtung zeigt zwei Top-Risiken, die sich Ende 2022 gegenüber 2021 bestätigten: Der IT-Ausfall und der Know-how-Verlust im Kontext des Fachkräftemangels. Bemerkenswert sind aber jene Top-Risiken, die seit 2021 am stärksten zugenommen haben: Beschaffung, Versorgungsengpass (besonders Abhängigkeiten vom Ausland) und Schlüssellieferanten (Abhängigkeiten von Produkten und Dienstleistungen). Zuletzt zählt seit September 2022 auch das Klima zu den 13 bedeutendsten Risiken der Studienteilnehmer.
Wie schützen sich nicht-systemrelevante EVUs gegen existenzielle Bedrohungen aus dem operativen Umfeld? Wie stärken sie ihre Resilienz, um diesen Bedrohungen zu trotzen? Doch wie stärken EVUs ihre Resilienz? Der folgende Beitrag zeigt am Beispiel der IBC Energie Wasser Chur (IBC), welche konkreten Schritte ein EVU dazu unternehmen kann.
Resilienz – Modewort oder neue Anforderung?
Resilienz ist ein Modewort, aber nicht nur. Der Begriff stammt aus der Psychologie, wo er verwendet wird, um Charaktereigenschaften zu beschreiben, die in ihrer Summe einem Menschen dazu verhelfen, schwere Traumata und Krisen zu überwinden, in sich Halt zu finden und als Persönlichkeit, trotz des Erlebten, zu florieren. Oft zitiert wird der österreichische Psychiater Viktor Frankl, der seine Überlebensgeschichte aus mehreren Nazi-Konzentrationslagern wissenschaftlich verarbeitet hat und die Überlebenswahrscheinlichkeit auf psychische Umstände und Fähigkeiten zurückführt [2].
Das Konzept findet seit Anfang der 2000er-Jahre auch in renommierten MBA-Programmen grossen Anklang, wo man die Parallelen von persönlichen Traumata und Krisen zu Unternehmenskrisen, wirtschaftlichen Schocks und rapiden, tiefgreifenden Veränderungen im operativen Umfeld erkannt hat. Die Betriebswirtschaftslehre beschäftigt sich, ähnlich wie die Psychologen, mit Eigenschaften und Praktiken, die Unternehmen in einem von Krisen geschüttelten Umfeld bestehen lassen [3]. Dabei ist es wichtig, die Modeerscheinung vom tatsächlichen Nutzen für ein spezifisches Unternehmen zu trennen. Eine systematische Risikoanalyse ist der beste Weg dazu.
Risikoanalyse – welche Massnahmen eignen sich dazu?
Wie stark ein Unternehmen von den Umwälzungen am internationalen Energiemarkt betroffen ist, hängt von dessen Geschäftstätigkeit ab. Eine individuelle Risikoidentifikation und -bewertung ist deshalb die Grundlage jeder effektiven Massnahme. Die IBC Energie Wasser Chur hat 2015 einen systematischen Prozess zur Identifikation, Bewertung und Steuerung zentraler Risiken eingeführt [4]. Jedes Jahr werden die zentralen 10 bis 15 Unternehmensrisiken evaluiert.
Die Geschäftsleitung der IBC entscheidet anschliessend, wie sie mit den Risiken umgehen will. Diese Entscheidungen hängen vom Risikoappetit des Unternehmens, dessen verfügbaren Ressourcen und einer professionellen Risikoanalyse ab. Handelt es sich etwa um strategische Risiken im Kontext eines Projekts, von dessen Umsetzung sich der Unternehmer Gewinn erhofft, sind die Risiken primär mit diesem erhofften Gewinn aufzuwägen. Bei den Massnahmen ist alles möglich, vom Verzicht auf das Projekt, wodurch das Risiko erlöscht, bis zur vollständigen Absicherung des Risikos durch Versicherungen und flankierende Massnahmen.
Bezüglich externer Risiken muss das potenzielle Schadensausmass, die Verkettung von Ausfällen und Beeinträchtigungen sowie langfristige Folgen evaluiert und dem Überleben des Betriebes gegenübergestellt werden. Die Schätzung der zu erwartenden Schäden ist hier essenziell, denn dem Unternehmen bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Risiko zu stellen und sich vorzubereiten. Eine systematische Analyse der zu erwartenden Ausfälle und der effiziente Einsatz der eigenen Ressourcen können hier einen existenziellen Unterschied machen.
Bei der IBC wurden so passende Massnahmen zur Minderung der Top-Risiken definiert. Dabei hat das Unternehmen ebenfalls eine Akzentuierung externer Risiken und Abhängigkeiten festgestellt und entschieden, dieser Entwicklung mit mehr Resilienz entgegenzuwirken. Der nächste Abschnitt gewährt einen Einblick in die Analyse der äusseren Umstände.
Die Vuca-Welt
IT-Ausfälle, Beschaffungs- und Versorgungsengpässe sowie der Ausfall von Schlüssellieferanten gründen alle in externen Abhängigkeiten, Unberechenbarkeit, Komplexität und des daraus resultierenden Kontrollverlusts eines Unternehmens in seinem operativen Umfeld. Der Sammelbegriff Vuca hat sich über den angelsächsischen Raum etabliert, um dieses Phänomen zu beschreiben. Die englischen Begriffe Vulnerability, Uncertainty, Complexity und Ambiguity (Verletzbarkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit) wurden in einer Studie der US-Armee aus dem Jahre 1992 erstmals zusammen aufgeführt [5]. Der Autor beschreibt darin das strategische Umfeld, in dem die militärische Führung in einer Zeit nach dem Kalten Krieg bestehen müsse, und mit welchen Fähigkeiten sie darin bestehen könne.
Dieses strategische Umfeld beschreibt dreissig Jahre später auch das operative Umfeld der EVUs. Die Pandemie bestätigte, wie stark das globale Wirtschaftssystem der hausgemachten Komplexität ausgeliefert ist, man denke an die beschränkte Verfügbarkeit von Alltagsgegenständen wie Masken oder Antibiotika. Heute sind es geopolitische Ereignisse, die aufzeigen, dass Unbeständigkeit, Unsicherheit und unvorhersehbare Wechselwirkungen fester Teil unseres operativen Umfelds bleiben.
In der Vuca-Welt sind Schnelligkeit, Handlungs- und Wandlungsfähigkeit die Währung des Tages. Diese Qualitäten gründen in einer tief verankerten Risikokultur, mentaler Agilität und struktureller Flexibilität. Sie machen eine resiliente Organisation aus, die es versteht, ihr Fortbestehen durch Verwerfungen und rapide Veränderungen zu sichern.
Kernprozesse und kritische Ressourcen
Während der Psychologe den Lebenssinn eines Patienten erkundet, um seine Resilienz zu stärken, geht es auch für das Unternehmen zunächst darum, seine Kernaufgaben zu benennen. Wozu gibt es dieses Unternehmen? Was ist sein Existenzgrund? Verschiedene Ansätze eignen sich für die Beantwortung dieser Fragen. Bei der IBC – wie bei vielen EVUs – galt es hier besonders, den gesetzlichen Grundversorgungsauftrag der Stadt zu berücksichtigen. Wichtig ist, die Kernaufgabe des Unternehmens stets als Prozess zu formulieren. Das Organisationsdiagramm-Denken der planbaren Vergangenheit ist da ungeeignet. Mit klar definierten End-to-End-Kernprozessen geht es in den nächsten Schritt.
Welche Arbeiten fallen in diesen Prozessen an, in welcher Reihenfolge? Wer führt sie aus? Welche Ressourcen sind für jeden einzelnen Arbeitsschritt nötig? Gibt es Abhängigkeiten zu anderen Prozessen, Produkten oder Dienstleistungen, intern oder extern? Eine systematische und sequenzielle Prozessbegehung kann die Sollbruchstellen eines Unternehmens klar aufzeigen. Nicht wenige Unternehmen erkennen als Nebeneffekt bedeutende Möglichkeiten der Prozessoptimierung.
Diese Prozessanalyse ist eine Dimension der Business-Impact-Analyse. Letztere beschreibt, welche Auswirkungen besonders die erwähnten externen Risiken auf die Kernprozesse und somit auf das Fortbestehen des Unternehmens haben können. Die zweite Dimension ist jene der Risikoszenarien.
Business-Impact-Analyse – Szenarien treffen auf Prozesse
Die relevanten Risiken haben Krisenpotenzial, das heisst, sie können das Unternehmen schnell in eine aussergewöhnliche Lage stürzen und weiter eskalieren. Es gibt unzählige öffentliche Quellen mit wertvollen Analysen zur Gefährdung von IT-Systemen, aber auch zu Naturkatastrophen und sozialen Brennpunkten. Die meisten Kantone erstellen beispielsweise regelmässige Gefährdungsanalysen, die Gefahren aus den Bereichen Natur, Technik und Gesellschaft in Szenarien beschreiben und bewerten. Diese dienen als ausgezeichnete Grundlage auch für ein Unternehmen, das keine systematische Risikoanalyse betreibt.
Die IBC hat den sequenziellen Wegfall von kritischen Ressourcen als Szenario beschrieben. In einem moderierten Workshop bewerteten die Prozessverantwortlichen die Auswirkungen auf die Durchführbarkeit der Kernprozesse unter verschiedenen Szenarien. Welche Arbeiten sind nicht mehr möglich, wenn der Strom ausfällt? Kann der Prozess trotzdem aufrechterhalten werden? Ab welchem Zeitpunkt sind externe personelle Mittel nötig? Kann das Unternehmen finanzielle Mittel verfügbar machen, um die Ausfälle zu überbrücken?
Die Antworten werden in einer Bewertungsmatrix mit einem Zahlen- und Farbschlüssel festgehalten. So können auch unbeteiligte Entscheidungsträger schnell verstehen, welche Szenarien besonders bedrohlich und welche Prozesse besonders exponiert sind. Die Bewertung zeigt dank verschiedenen Bewertungsparametern auf, welche Ressourcen von einem Szenario besonders betroffen sind. Daneben werden die Auswirkungen auch in verschiedenen Zeitabschnitten bewertet. So können Prioritäten für die Arbeit in einer hektischen Krisensituation gesetzt werden und es ist klar, wie lange man Zeit hat, um kritische Ausfälle zu kompensieren.
Erkenntnisse über Verletzbarkeiten und Schwachstellen allein machen die IBC noch nicht resilienter. Deshalb wird die Geschäftsleitung mit den Prozessverantwortlichen in einem nächsten Schritt Massnahmen definieren, um die Kernprozesse zu schützen, Schwachstellen zu stärken und Ausweichmöglichkeiten zu schaffen.
Kontinuitätsplanung
Die Kontinuitätsplanung ist eine Reihe von systematischen Vorkehrungen, die die Fortführung der Kerntätigkeiten der IBC sicherstellen soll, auch wenn kritische Ressourcen wegfallen. Es gibt tatsächlich viele Kompensationsmöglichkeiten für aussergewöhnliche Lagen: Back-ups von kritischen Daten, redundante Systeme, manuelle Ausweichlösungen oder Personalreservepools.
Ein Notbetrieb kann die reduzierte Ausführung eines Kernprozesses mit geringeren Ressourcen bereits festlegen. Abläufe werden verkürzt, Arbeitsschritte vereinfacht oder zusammengefasst, gewisse Schritte können kurzfristig gar weggelassen werden, um einen Prozess bei Personalmangel aufrechtzuerhalten. Die Pandemie brachte in diesem Bereich viele kreative Lösungen hervor. Ähnlich können Arbeitsschritte an geeigneten alternativen Standorten durchgeführt werden, wenn Infrastruktur wegfällt. Solche Abläufe können in einer Krise den entscheidenden Unterschied machen.
Die Kontinuitätsplanung fordert besonders viel Kreativität. Hier zeigt sich zudem, dass die vermeintliche Ohnmacht gegenüber externen Bedrohungen deutlich reduziert werden kann. Der gefühlte Kontrollverlust in der Vuca-Welt weicht einer vergrösserten Handlungsfähigkeit des resilienten Unternehmens. Ausweichmöglichkeiten und ein vordefinierter Notbetrieb verschaffen den Entscheidungsträgern kostbare Zeit. Das resiliente Unternehmen wird in der Krise nicht Spielball der Umstände. Statt fremdbestimmt auf Entwicklungen und Auswirkungen zu reagieren, antizipiert es, handelt selbstbestimmt und kann sich auch mit der Frage befassen, wie man von den Ereignissen profitieren kann. Denn eines bleibt jeder Krise eigen: Sie birgt auch Chancen.
Referenzen
[1] Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Point de Presse, 6.9.2022.
[2] Viktor E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Penguin, 2010.
[3] G. Hamel, L. Välikangas, «The Quest for Resilience», Harvard Business Review, September 2003.
[4] Eric Montagne et al., «Intelligente Gruppenentscheidungen im Risikomanagement», Risikomanager 20/2015, S. 25–30.
[5] Richard Mackey Sr., «Translating Vision into Reality: The Role of the Strategic Leader», U.S. Army War College Military Studies Program Paper, Carlisle, PA (USA), 1992.
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