Auf dem Weg zur Smart City
Projekt in Mendrisio
Nachhaltigkeit ist schon länger ein Thema für Mendrisio. Die Tessiner Kleinstadt ist für den Elektromobilitäts-Grossversuch VEL-1 bekannt und hat für ihre Energieeffizienz-Umsetzungen 2019 das Label «Energiestadt Gold» erhalten. Mendrisio will sich aber nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern weitere Schritte auf dem Weg in Richtung Smart City gehen.
Mit Smart-City-Konzepten befassen sich meist grössere Städte, die die mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Umweltbelastungen und Gesundheitsprobleme mit digitalen Diensten reduzieren wollen. Der zunächst in Nordamerika eingeführte Ansatz ist heute weltweit verbreitet. Er geht auf die 1990er-Jahre zurück, als die Telekommunikation neue technische Möglichkeiten eröffnete.
Das Konzept wird kontinuierlich erweitert, weil neue technologische Features hinzukommen und der Fokus zunehmend auf die Bedürfnisse der Bevölkerung gelegt wird. Heute gehören Aspekte wie Mobilität, Lebensqualität, Ökonomie, Umwelt, Verwaltung sowie Gesellschaft dazu. Zur veränderten Perspektive sagt der an der Supsi (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) tätige Forscher Albedo Bettini: «Das Wohlergehen und die Nachhaltigkeit der Bürger stehen heute im Mittelpunkt der Diskussion, und die Digitalisierung ist nur noch das Werkzeug, das beispielsweise dazu dient, die Bevölkerung am Prozess zu beteiligen, Probleme zu identifizieren oder modellgestützte Prognosen zu überwachen und zu entwickeln. Technologien für operationelle Massnahmen und zur Problemlösung sollten nur dann eingesetzt werden, wenn sie Vorteile bringen. Ansonsten sind nicht-technische Ansätze die ‹klügsten› und sollten daher prioritär behandelt werden.» Eine Stadt ist somit nicht zwingend «smarter», wenn möglichst viel Technik eingeführt wurde, sondern wenn sich ihre Bewohnerinnen und Bewohner in ihr wohlfühlen und die gesteckten Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.
Der Weg zu einer Smart City
Es gibt diverse Definitionen für den Begriff Smart City und der Rolle der darin verwendeten digitalen Technologien. Da Mendrisio, eine rund fünf Kilometer von der italienischen Grenze entfernte Tessiner Kleinstadt, dünn besiedelt ist, übernahm man nicht einfach ein bestehendes Grossstadt- Konzept, sondern ging für die Definition des Konzeptes einen eigenen Weg, bei dem man sich zwar von früheren Konzepten inspirieren liess, aber auf die Partizipation setzte.
Konzeptmaterial erhielt man beispielsweise vom Verband Smart City Hub, der mit der Schweizer Situation vertraut ist. Regional steht man in Kontakt mit Lugano (Lugano Living Lab) und mit Bellinzona, wo die Bellidea-App eingesetzt wird, um die Mobilität nachhaltiger zu machen.
In einem Partizipativverfahren wurden sowohl die Wünsche von Verwaltungsangestellten (Top-down-Methode) als auch die von Bewohnern (Bottom-up-Methode) ermittelt. Gemäss dem im Projekt involvierten Forscher Albedo Bettini bietet sich in weniger dicht besiedelten Gegenden die Chance, den Smart-City-Ansatz präziser als bei grossen Städten an die lokale Situation anzupassen, weil die Bewohner praktisch individuell befragt werden können und so ihre Meinung stärker berücksichtigt werden kann als in Grossstädten.
Rund fünfzehn Vertreter der Verwaltung trafen sich am 18. Februar 2019 im Kulturzentrum LaFilanda zu einem interaktiven Workshop, an dem ein grundsätzliches Smart-City-Konzept vorgestellt wurde. Anschliessend wurden Ideen und Vorschläge zu den zentralen Themen Umwelt, Lebensqualität, Wirtschaft, Gesellschaft, Mobilität und Verwaltung gesammelt. Moderiert wurde der Workshop von Forschern der Supsi. Das Ergebnis: Das Thema Umwelt war mit 12 Punkten dasjenige, das am ehesten für den Einsatz von ICT geeignet schien. Der Bereich Gesellschaft lag mit 10 Punkten knapp dahinter, gefolgt von der Verwaltung mit 9 Punkten. Mobilität, Wirtschaft und Lebensqualität kamen auf 7, 6 und 5 Punkte.
Dann wurden die Ansichten der Bevölkerung über den gesamten Monat April 2019 mit einer Umfrage ermittelt, auf die in den Printmedien, im Radio, via Facebook und weiteren Medien aufmerksam gemacht wurde. Ideen konnten auf Papier oder online auf der Website www.smartxme.ch (der Name steht für den Weg von Mendrisio zur Smart City) eingereicht werden. Bürger und Organisationen wurden dabei gefragt, wie sie das Mendrisio der Zukunft gerne hätten. Insgesamt kamen so 115 Ideen zusammen, die anschliessend durch die Supsi-Forscher analysiert wurden. Auch hier dominierte der Themenbereich Umwelt mit 58 Vorschlägen. Da es sich um ein Thema mit vielen Unterthemen handelt, überraschte diese Dominanz nicht. Der Themenbereich Mobilität lag knapp dahinter; er kam auf 55 Vorschläge. An dritter Stelle lag die Lebensqualität.
Urbane Erneuerung als Antrieb
Die Motivation für das Smart-City-Projekt war der Wunsch nach einer Erneuerung von Mendrisio unter Berücksichtigung eines im September 2013 verabschiedeten Dokuments, das die strategischen Ziele für die nachhaltige Entwicklung der Stadt bis 2030 definiert. Diese Strategie soll zunächst durch eine Digitalisierung bei der Verwaltung und durch die Aktivierung eines Kontaktportals für Bewohner umgesetzt werden. Dann sollen Themen behandelt werden, die sich mit der Mobilität und mit georeferenzierten Informationen befassen. Bei diesen Teilprojekten soll darauf geachtet werden, dass die Umwelt- und Klimaauswirkungen minimiert werden.
Welche Technologien dabei konkret eingesetzt werden sollen, lässt sich gemäss dem involvierten Forscher Albedo Bettini heute noch nicht sagen. Das Datenverarbeitungszentrum (CED) der Gemeinde analysiere die Situation zurzeit, um Entscheidungen treffen zu können. Man spiele mit dem Gedanken, interaktive Informationssäulen zu installieren. Zwei Technologien wurden aber bereits im historischen Stadtzentrum eingeführt: ein Videoüberwachungssystem sowie ein WLAN-Netzwerk.

Die Mobilität als wichtige Säule
In den Umfragen lag die Mobilität zwar nicht an erster Stelle, sie steht aber beispielhaft für Innovationskraft. Erfahrungen mit der E-Mobilität machte man in Mendrisio bereits früh, als in der Gemeinde die grösste europäische Modellregion gegründet wurde. Von 1994 bis 2001 wurden dort im Grossversuch VEL-1 über 400 leichte Elektrofahrzeuge in den Markt eingeführt. Das Projekt wurde vom Bundesamt für Energie initiiert und unterstützt.
Die höchste Priorität unter den aktuellen Rückmeldungen zur Mobilität gehört dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in schwach versorgten Gebieten, unter anderem der Fahrhäufigkeit und dem Nacht- und Wochenendangebot. Wegen der niedrigen Bevölkerungsdichte und einer hohen Dichte an Autobesitzern ist die Nachfrage nach dem ÖV gering, wodurch er teuer und ineffizient wird. Unter dem Mangel an Fahrdiensten leiden besonders ältere Menschen, Behinderte und junge Menschen ohne Auto. Gewünscht werden auch sichere und attraktive Velo- und Gehwege. Zudem stiess ein E-Bike-Verleihservice auf Interesse.
Nebst dem öffentlichen Verkehr, Fahrrädern und Fussgängern möchte man in Mendrisio bald noch weitergehen: Eine wissenschaftliche Studie zum Einsatz automatisierter Fahrzeuge soll zusammen mit dem nahe gelegenen Stabio durchgeführt werden, unter Beteiligung verschiedener europäischer Universitäten. Die Forscher wollen dabei die Optimierung der regionalen Infrastruktur für den Übergang zu elektrischen und autonomen Fahrzeugen untersuchen.
Schlussbetrachtung
Das Beispiel Mendrisio zeigt, dass die Erarbeitung eines lokalen Smart-City-Konzeptes unter Einbezug der Bevölkerung die Chance bietet, ein Konzept zu entwickeln, das präzise auf die lokale Situation zugeschnitten ist und nicht von technologiegetriebenen Konzepten bestimmt wird, die unnötige Kosten generieren können.
Das Prädikat «smart» gilt in Technikkreisen oft als Synonym von «mit Computern ausgestattet und deshalb besser». Beim SmartXme-Projekt von Mendrisio wird es anders verwendet: im Sinne von intelligent, wo auch der bewusste Verzicht auf Technologien möglich ist, wenn das angepeilte Ziel dies zulässt. Jeder umfassende Ansatz, bei dem die Nachhaltigkeit höchste Priorität hat, sollte eigentlich stets für diese Minimum-Tech-Variante offen sein.
Literatur
Albedo Bettini, et al., Rapporto «Percorso per l’integrazione di una strategia Smart City nel Comune di Mendrisio», Trevano, 26.11.2019.
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