Rückschau Energienetze , Infrastruktur

Anlagentagung 2020

Von Erneuerbaren, SF6-Alternativen und Balancing-Plattformen

16.10.2020

Am 23. September 2020 trafen sich Interes­sierte unter BAG-konformen Bedin­gungen im Kultur & Kongress­haus in Aarau. Das Themen­spektrum war breit und ging über eigentliche Infra­struktur­fragen hinaus, denn beispielsweise wurden auch die erneuer­baren Energien und Tools zur Entlastung des Strom­netzes präsentiert. Aber das zentrale Thema «Anlagen» kam dabei nicht zu kurz.

Eröffnet wurde die Tagung durch ETH-Professor Anton Gunzinger, Geschäftsleiter bei Supercomputing Systems, der sich mit der globalen Energiesituation befasste. Er veranschaulichte den CO2-Fussabdruck und die wirtschaftliche Kraft mit einer Grafik von Global Footprint Network, die die Länder der Welt in vier Quadranten einteilt. Im problematischsten Quadrant, der sich durch finanzielle Knappheit und Belastung der Biokapazität auszeichnet, leben 71% der Weltbevölkerung. Will man aus diesem Quadranten in den gelagen, bei dem weder die Finanzen noch die Umwelt strapaziert werden, muss man Energie und Nahrung erneuerbar machen. Beispielsweise beim Fleischkonsum, der 5% der Nahrung darstellt, aber 50% der Fläche braucht. Bezüglich der Energie konstatierte er, dass eine Umstellung auf erneuerbare Energien in einem Zeithorizont von unter einer Generation technisch machbar sei, bei vergleichbarem Wohlstand und geringeren volkswirtschaftlichen Kosten. Die Frage, ob dies politisch machbar ist, klammerte er explizit aus.

Anton Gunzinger
Anton Gunzinger

Der Trend zur Nachhaltigkeit ist für Gunzinger auch ein Trend zur vollständigen Elektrifizierung aller Verbraucher. Das Hauptproblem beim Heizen sind dabei die renovationsbedürftigen Häuser, die rund drei Viertel des Bestands ausmachen und bei der heutigen Renovationsrate erst nach 70 Jahren saniert wären. Nimmt man eine Renovationsrate von 4% pro Jahr an, kommt man auf erfreulichere 19 Jahre.

Auch die Mobilität ist ein grosser Faktor beim CO2. Es findet zurzeit eine ungünstige Verhaltensveränderung statt. 1960 wog ein Personenwagen 700 kg und transportierte durchschnittlich 2,4 Personen. 2015 liegt das Durchschnittsgewicht bei 1,4 t und es werden lediglich 1,4 Personen befördert. Optimierungen beim Motor können diese Entwicklung nicht kompensieren. Man müsse beim Verhalten ansetzen. Beispielsweise, indem man mehr zu Fuss unterwegs wäre und für Strecken bis 5 km das Velo einsetzen würde. Dies könnte der Mobilitätsverbrauch halbieren.

Optimistisch war Gunzinger bezüglich Schweizer Stromverbrauch, der dank Effizienzsteigerungen sogar bei wachsender Bevölkerung bis 2035 konstant bleiben sollte. Er betonte die Bedeutung von Windkraft, denn der Wind bläst auch in der Nacht und im Winter. Österreich könnte uns da als Vorbild dienen.

Auf globaler Ebene wird künftig gemäss Gunzinger für die Energie mit den neuen Erneuerbaren insgesamt weniger ausgegeben. Zugleich finde ein kompletter Machtumbau statt. Abschliessend unterstrich Gunzinger mit einem konkreten Beispiel seine Botschaft: Sein PV-mässig ausgestattetes altes Elternhaus zeige auf, dass die Energiewende möglich ist, dass man sogar mehr Energie erzeugen kann, als vor Ort benötigt.

Christine Roth
Christine Roth

Bei Christine Roth, Ressortleiterin Umwelt bei Swissmem, verliess man die globale Perspektive und stieg in die molekulare Welt der Schaltanlagen-Isolationsgase ein. Christine Roth erläuterte zunächst die Eigenschaften von SF6: Als Isolier- und Löschgas habe SF6 ausgezeichnete dielektrische Eigenschaften, es ist ungiftig, nicht krebserregend, nicht reaktiv, unbrennbar, eigentlich alles, was man haben möchte, aber es ist zugleich das stärkste bekannte Treibhausgas. Trotzdem trägt SF6 nur 1% zum Treibhausgaseffekt bei. Roth ging auf das Pariser Klimaabkommen ein und erläuterte die Auswirkungen auf die Schweizer Klimapolitik. Die bundesrätlichen Ziele liegen bei einer Reduktion von 50% gegenüber 1990 bis 2030. Bis 2050 soll man um 70-85% reduzieren. Klimaneutralität soll dann später folgen.

In der Schweiz sei SF6 grundsätzlich verboten, aber für gewisse Anwendungen erlaubt, beispielsweise in Schaltanlagen. In 1999 wurde dafür die SF6-Branchenlösung, eine freiwillige Initiative der Schaltanlagenhersteller, gegründet. Die Branchenlösung wurde 2012 neu verhandelt und ein Verbesserungsmanagement wurde bei Havarien definiert. Bis mindestens 2020 gibt es keinen Pfand auf SF6. Die Ziele der Branchenlösung sind eine gesetzliche Meldepflicht innerhalb der Branche sowie die jährliche Erfassung des SF6-Umsatzes und der Emissionen. So soll ein verantwortungsvoller Umgang gefördert werden. Die Massnahmen haben die Emissionen der Teilnehmer bereits reduziert.

Karsten Burges
Karsten Burges

Karsten Burges von RE-xpertise schilderte die Situation in der Elektroindustrie, die eine der wenigen Branchen ist, in der SF6 noch erlaubt ist. Er stellte die Frage, ob sich eine sichere Stromversorgung auch ohne SF6 sicherstellen lässt, schliesslich gäbe es heute auch eine Reihe neuer Alternativen. Einige Hersteller haben dazu Anlagenkonzepte entwickelt. Für die Anwender ist die Situation aber unsicher, denn man weiss nicht, auf welches Konzept man setzen soll.

Mit Entsorgungsemissionen habe man aktuell kaum Probleme, denn die meisten SF6-Anlagen sind noch in Betrieb. Die Herausforderung komme erst nach der Ausserbetriebnahme: In zwanzig Jahren wird die Situation anders aussehen, wenn die Anlagen ans Ende ihrer Lebensdauer kommen, besonders, weil viele Anlagen nicht in Europa im Einsatz stehen und in aussereuropäischen Ländern der Umgang mit SF6 nicht so streng gehandhabt wird. Da ist eine sorgfältige End-of-Life-Behandlung nicht immer sichergestellt. Und dies, obwohl SF6 in vielen Jahren in den meisten Anwendungen nicht mehr zum Einsatz kommen wird.

In der Primärverteilung spielt SF6 nur eine kleinere Rolle, da hier der Vakuum-Leistungsschalter Stand der Technik ist. In der Sekundärverteilung wird das Gas überwiegend als Schaltmedium in Lasttrennschaltern eingesetzt.

Karsten Burges ging auf die Verfügbarkeit von SF6-freien Alternativen für die Primär- und Sekundärverteilung ein. Es gäbe fast zu viele Alternativen, die Orientierung sei nicht einfach. Viele Hersteller haben Alternativen, die in Anlagen mit denselben Massen verwendet werden können. Das sei für Nachrüstungen wichtig. Da es nur kleine Serien gibt, ist der Preis um fast einen Drittel höher. Burges plädierte dafür, dass sich die Politik da einschaltet und die Stromwirtschaft unterstützt. Bezüglich Langzeitstabilität und Lebensdauer sollten die Alternativen dabei vergleichbar mit SF6 sein. SF6 hat den Vorteil, dass es rekombiniert, was bei den anderen Stoffen nicht unbedingt der Fall ist. Der Nachteil geringfügig grösserer Dimensionen in der Sekundärverteilung relativiert sich. Betreiber von erneuerbare-Energien-Anlagen (Offshore-Windparks usw.) sind gut beraten, dieser Thematik auch Aufmerksamkeit zu schenken. Für Burges ist erfreulich, dass sich die Industrie nicht mehr so vehement gegen die Alternativen wehrt wie noch vor fünf Jahren.

Thomas Koch, Business Developer bei Siemens Gas and Power GmbH & Co. KG, stiess via Live Stream zur Tagung hinzu. Er stellte einen neuen Ansatz bei Überspannungsableitern vor, bei dem die Restspannung reduziert ist. Dies sei kostengünstiger und ermögliche es, Energiesysteme kompakter zu bauen. Die Masthöhe und -breite kann dadurch deutlich reduziert werden, und Masten können kompakter werden. Der Eingriff in die Natur bei neuen Freileitungsprojekten wird reduziert. Zudem vermeiden Ableiter Kurzunterbrechungen bei Blitzeinschlägen und Schaltvorgängen im Netz. Ableiter können auch helfen, den Anteil von SF6 oder auch Mineralöl bei Trafos zu reduzieren. Und beispielsweise verhindern, dass Eisenbahnbrücken neu gebaut werden müssen, weil es sonst zu wenig Platz für die Isolatoren hätte.

Auch bei den Ableitern hat die Digitalisierung Einzug gehalten. Beispielsweise können nun die Wetterdaten mittels Internet-der-Dinge-Sensoren erfasst werden, um ein Monitoring anbieten zu können. Die Leistung kann optimiert werden, wenn die Produkte miteinander kommunizieren.

Sein Fazit: Mit Überspannungsableitern können Kosten gespart werden. Aber um eine detaillierte Isolationskoordination und Simulationen kommt man dabei nicht herum.

Martin Hässig
Martin Hässig

Martin Hässig von Swissgrid stellte verschiedene Diagnostik- und Monitoring-Methoden für Transformatoren vor, die sowohl im Betrieb als auch offline durchgeführt werden können. Er erläuterte die Geschichte der Teilentladungsmessung an Transformatoren, die bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Für die Zukunft erwartet er eine Emanzipation der Diagnostikverfahren, neue Verfahren zur Analyse von vorhandenen Betriebsdaten, Entwicklung robuster, zuverlässiger Detektoren, Systeme und Analyseverfahren. Aber bevor man mit dem Monitoring anfängt, müsse man natürlich sicherstellen, dass man gute Transformatoren einkauft.

Thomas Brügger
Thomas Brügger

Thomas Brügger, Projektingenieur bei der Fachkommission für Hochspannungsfragen, ging auf Diagnoseverfahren an Generatoren ein. Viele Methoden sind vergleichbar mit denen von Transformatoren. Er erläuterte Gründe für Teilentladungen, für die Alterung und für fehlerhafte Isolationen. Besonders wichtig seien bei Generatoren visuelle Kontrollen, denn man sieht oft, wo Probleme vorhanden sind. Mit UV-Kameras können oberflächliche Teilentladungen sichtbar gemacht werden. Ablagerungsspuren weisen auch auf Probleme hin.

Sein Fazit: Eine Teilentladungsmessung ersetzt weder Kompetenz beim Bedienpersonal, beim Asset-Manager, beim Prüfingenieur noch beim Instandhalter. Eine optimale Diagnose setzt sich aus einer Auswahl verschiedener Methoden zusammen. Auf die zeitliche Entwicklung soll dabei besonders geachtet werde, denn sie ist wichtiger als absolute Diagnosewerte.

Florian Martin
Florian Martin

Florian Martin, Head of Asset Technology beim Übertragungsbetreiber Tennet TSO GmbH, berichtete von der Entwicklung des Übertragungsnetzes in Deutschland. Wenn Wind- und PV-Produktion in Deutschland den Verbrauch übersteigen, muss die Energie ins Ausland übertragen werden, da die Speicher fehlen. Ein Power-Hub in der Nordsee wird zurzeit diskutiert. Für ein funktionierendes Energienetz müssen aber auch die Verteilnetzbetreiber Daten austauschen. Technisch gibt es viele Möglichkeiten dazu.

Bevor man ein Netz verstärkt oder ausbaut, sollte man eine Netzoptimierung in Betracht ziehen. Ein zentraler Bestandteil ist dabei die Blindleistungs-Kompensation. Mit ihr können Redispatches vermieden werden bzw. ein Abregeln und Herunterfahren. 2019 erreichten in Deutschland die Redispatch-Kosten die 1 Mia. Euro Grenze, Grund genug, hier nach Lösungen zu suchen. Technisch gibt es diverse Möglichkeiten, um das Problem zu lösen: HVDC, Statcom, TCSC SVC RPS, rotierende Phasenschieber mit Schwungrad, Flexibilität mit MSCDN (Mechanically switched Capacitor with Damping Network) und Phasenschiebertransformatoren.

Das zentrale Stromthema in Deutschland ist die Frage, wie man die ab 2035, nach dem Kohleausstieg und KKW-Ausstieg, fehlende rotierende Masse im Netz ersetzt. Auch die Überlastbarkeit der Betriebsmittel wird in einem Forschungsprojekt untersucht. Kann man gewisse Betriebsmittel auch überlasten, um die Netzstabilität zu gewährleisten? Dies ist eine sehr politische Diskussion.

Für Florian Martin ist klar, dass die Energiewende Möglichkeiten bietet, um neue Lösungen zur Verbesserung des Lastflusses und der Netzwerkstabilität zu entwickeln. Das ist eine Aufgabe sowohl für Übertragungs- als auch für Verteilnetzbetreiber. Keiner darf sich dabei allein in den Vordergrund stellen. Die Mischung aus bereits bekannter Technik mit neuen Technologien, um Systeme zu schaffen, die die Versorgungssicherheit sicherstellen, sei spannend.

Thomas Frey
Thomas Frey

Thomas Frey, Schutz & Leittechnik bei Bouygues E&S EnerTrans AG, ging in seiner Präsentation auf das gelöschte Mittelspannungsnetz für Anwender ein. Er erläuterte zunächst den Erdschluss, bei dem nur eine Phase mit Erde verbunden ist. Bei drei geerdeten Phasen und einem symmetrischen Netz fliesst kein Strom auf Erde. Er empfiehlt, die Bezeichnung Erdkurzschluss zu verwenden, weil sehr grosse Ströme fliessen. Wenn man in einem solchen Fall den Sternpunktanschluss unterbricht, kommen die Leiter-Erde-Kapazitäten ins Spiel. Das Netz mit den Kapazitäten bestimmt nun den Strom. Eine Erdschlusskompensation kann mit einer Erdschlusslöschspule (Petersen-Spule) erreicht werden.

Susanne Landt
Susanne Landt

Abgeschlossen wurde die Tagung durch eine Präsentation einer Software-Lösung. Susanne Landt, Head of Stakeholder Affairs und Marek Zima, Head of Research & Digitalisation bei Swissgrid AG stellten in einem gemeinsamen Vortrag die neue Crowd Balancing Platform Equigy vor, eine Lösung im Regelenergiemarkt, die auf Blockchain basiert. Mit Equigy startet Swissgrid ein Pilotprojekt in der Schweiz, das auf den Einsatz von Speichertechnologien im Bereich der Primärregelleistung abzielt. Equigy nutzt dafür nebst der Blockchain-Technologie auch das Internet of Things. Das Konsortium zum Einsatz dieser Technologie für Netzbetreiber in Europa wurde von den Übertragungsnetzbetreibern Tennet, Terna und Swissgrid gemeinsam gegründet.

Marek Zima
Marek Zima

Marek Zima erläuterte, wer wofür bei Crowd Balancing Platform Pilotprojekten verantwortlich ist. Er erläuterte die Schichten der Architektur der Plattform. Aus technologischer Sicht kann man Systemdienstleistungen mit der Blockchain auf sichere und transparente Weise erbringen. Aus organisatorischer Sicht ist der Open-Source-Ansatz von Vorteil, da andere Partner die Software übernehmen und sich beteiligen können.

Die Anlagentagung zeigte auf, dass nebst Hardware-Fragen auch die Digitalisierung ins Spiel kommt, um den von der Energiewende geforderten Umbau bei gleichbleibender Versorgungssicherheit umsetzen zu können. Und dass sich Umweltfragen keineswegs nur auf die Stromerzeugung beschränken – auch die Netzinfrastruktur muss dabei berücksichtigt werden.

Autor
Radomír Novotný

ist Chefredaktor des Bulletins Electrosuisse.

  • Electrosuisse
    8320 Fehraltorf

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