«Alle zwei Jahre ein neuer Beruf»
Laura Perez ist eine Pionierin
Laura Perez (26) absolviert im Kernkraftwerk Gösgen als erste Frau in der Schweiz die Ausbildung zur Pikett-Ingenieurin.
Die Zukunft der Kernenergie in der Schweiz ist ungewiss. Mit der Zustimmung zur Energiestrategie 2050 hat das Schweizer Stimmvolk 2017 für ein Energiesystem votiert, in dem die Kernkraft mittel- bis langfristig keine Rolle mehr spielen wird, in dem Kernkraftwerke vom Netz gehen sollen, sobald sie nicht mehr als sicher eingestuft werden und in dem der Ein-Drittel-Anteil Kernenergie am nationalen Produktionsmix hauptsächlich durch erneuerbare Energien substituiert werden soll. Heute, acht Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima scheint bei der Schweizer Bevölkerung der Wille nach einer «entkernten» Energieversorgung nach wie vor ungebrochen. Ob es sich dabei um eine blosse Momentaufnahme handelt, oder ob die Stromverbraucher tatsächlich bereit sind, ein Energiesystem ohne Kernkraft zu finanzieren, wird die Zukunft zeigen müssen.
Die Kernenergie hat in der Schweiz aber (mindestens) eine Gegenwart. Noch immer sind sämtliche fünf Anlagen in Betrieb, auch wenn in Mühleberg der Schalter in einem halben Jahr umgelegt werden wird – der Entscheid dazu war jedoch bereits 2013 erfolgt. Noch immer produzieren die Schweizer Kernkraftwerke Beznau I und II, Mühleberg, Gösgen und Leibstadt 33% des Stroms in der Schweiz. Und noch immer suchen die Kraftwerke Fachleute, welche die komplexen und in jedem Werk einzigartigen Anlagen und Systeme bedienen, warten und überwachen können.
Laura Perez aus Bonaduz im Kanton Graubünden ist eine solche Fachfrau. Die ETH-Absolventin arbeitet seit Herbst 2017 im Kernkraftwerk Gösgen und durchläuft hier die Ausbildung zur Pikett-Ingenieurin. Die 26-Jährige verfügt über einen Master in Nuclear Engineering und hatte im Rahmen ihrer Master-Arbeit bereits während eines halben Jahres ein Projekt in der Brennstoffabteilung in Gösgen begleitet. «Während ich im Kernkraftwerk arbeitete, habe ich mir natürlich alles genau angeschaut. Wann kriegt man denn sonst die Gelegenheit, eine solche Anlage studieren zu können?», sagt Laura Perez. Dabei habe sie auch mitbekommen, dass die Suche nach Pikett-Ingenieuren schwierig ist. «Mich interessierte diese Aufgabe aber sehr, also habe ich mich gemeldet.»

Nicht mit einer Anstellung gerechnet
Mit einer Anstellung gerechnet habe sie aber nicht, denn «vor vielen Jahren nahm ich an einer Führung durch das Kernkraftwerk teil. Ein Kollege behauptete damals, dass KKWs keine Frauen als Pikett-Ingenieurinnen ausbildeten. Die Ausbildung dauere lange und sei aufwendig. Und werde eine Frau nach dem Abschluss schwanger, sei sie weg und der Aufwand wäre für nichts gewesen.» Allerdings habe der Besucherführer damals schon erwidert, dass das überhaupt kein Problem sei. Es habe sich bisher einfach noch keine Frau um diese Ausbildung beworben. Das änderte sich erst, als Laura Perez ihre Anfrage deponierte – und nun die Chance erhalten hat, die erste Pikett-Ingenieurin der Schweiz zu werden.
Nicht der Pioniergeist bewog Laura Perez jedoch, Pikett-Ingenieurin zu werden. «Die Ausbildung ist eine einmalige Möglichkeit, dieses Werk bis ins kleinste Detail kennenzulernen, zu erfahren, wie die vielen Systeme ineinandergreifen und wie die Anlage funktioniert.» Die Interdisziplinarität dieser Aufgabe hat es der jungen Frau angetan: «Viele Fachbereiche wie Kerntechnik und Maschinenbau, mit denen ich mich schon während des Studiums beschäftigt hatte, spielen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen auch noch Chemie und Physik. So kommen viele Fachgebiete, mit denen ich mich gerne beschäftige, in einem Beruf zusammen.» Laura Perez’ Interesse für Naturwissenschaft und Technik war früh geweckt worden. Schon in der Primarschule habe sie den Mathematik-Unterricht am liebsten gehabt. Mit den Schwerpunkten Mathematik und Physik sowie dem Ergänzungsfach Chemie blieb Laura Perez ihrer Linie auch im Gymnasium in Chur treu. Beide Elternteile sind ausserdem eng mit dem Baugewerbe verbunden: Vater Perez ist Bauingenieur, während ihre Mutter Hochbauzeichnerin gelernt hat. «Vielleicht wurde mir das Interesse an technischen Themen ja auch von zu Hause mitgegeben. Auf jeden Fall wurde es mir nicht verwehrt.» Dafür spricht, dass auch die Schwester von Laura Perez gelernte Hochbauzeichnerin ist und die Ausbildung zur Architektin absolviert.
Sehr gute Kollegen in der Schichtgruppe
Laura Perez ist als angehende Pikett-Ingenieurin in doppelter Hinsicht eine Exotin. Obwohl Frauen heute in vielen «Männerberufen» – sei es beispielsweise als Lastwagen-Chauffeurin, als Polizistin oder auch als Netzfachfrau – ganz selbstverständlich ihren Mann stehen, ist ein Kernkraftwerk trotzdem noch eine Welt für sich. Frauen seien auf der Anlage halt wirklich eine Seltenheit. Und weil vor ihr sehr lange keine Frau mehr auf der Schicht gearbeitet habe, sei das bei den Kollegen natürlich schon ein Thema. «Ich erwarte weder Rücksicht noch Sonderbehandlung, nur weil ich eine Frau bin. In meiner Schichtgruppe habe ich aber sehr gute Kollegen, die mir zeigen, worauf ich achten muss. Dort erhalte ich wirklich sehr viel Unterstützung.» Und bei den meisten anderen Kollegen habe sie die Erfahrung gemacht, dass sich die anfängliche Aufregung lege, «sobald sie mich kennengelernt haben und sehen, dass ich auch nur meine Arbeit machen will».
«Anders» ist Laura Perez im Vergleich zu ihren Kollegen auch, weil sie die Ausbildung zur Pikett-Ingenieurin als Akademikerin in Angriff nimmt. Normalerweise verfügen die Fachleute auf der Anlage über einen technischen Lehrabschluss und entsprechende Weiterbildungen, beispielsweise als KKW-Anlagenoperateur. Wer die Laufbahn als Pikett-Ingenieur einschlagen will, benötigt ausserdem einen technischen Abschluss auf Stufe Fachhochschule. Dass die praxiserprobten Operateure der «unerfahrenen Theoretikerin von der Universität» daher mit einer gewissen Skepsis begegnen, könne sie verstehen. «Meine Kollegen verfügen alle über langjährige praktische Erfahrung sowie mega viel Wissen und Know-how über diese Anlage. Daher schaue ich ihnen bei der Arbeit so oft wie möglich über die Schulter.» Einmal habe sie ein Kollege gefragt, warum sie ihm zusehen wolle. Sie habe doch studiert und wisse schon alles. «Ich habe ihm dann gesagt, dass ich eben genau das noch nicht wisse, dass mir diese praktische Erfahrung fehle und ich diese Dinge nur von ihm und seinen Kollegen lernen könne, da sie allesamt über diese Erfahrung verfügten.» Weil sie gewisse Inhalte bereits im Rahmen ihres Studiums behandelt hat, konnte Laura Perez auf der anderen Seite bestimmte theoretische Teile ihrer Ausbildung in kürzerer Zeit absolvieren, beispielsweise die obligatorische kerntechnische Grundausbildung an der Reaktorschule am Paul-Scherrer-Institut (PSI).
Laura Perez’ Weg ist noch lang. Die Ausbildung zur Pikett-Ingenieurin dauert zwischen acht und zehn Jahren. «Ich habe noch viel vor mir», sagt sie denn auch. Die Kandidaten durchlaufen insgesamt fünf Stufen: vom Anlagenoperateur über den Reaktoroperateur Stufe B sowie Stufe A, den Schichtchef und schliesslich zum Pikett-Ingenieur. Jeder dieser Ausbildungsabschnitte dauert ungefähr zwei Jahre. Allerdings entscheiden die Kandidaten selbst, wann sie für die nächste Stufe bereit sind oder ob sie noch zuwarten wollen. Weil die Ausbildung zum Reaktoroperateur am PSI nur alle zwei Jahre startet, hat Laura Perez die erste Stufe – die Arbeit als Anlagenoperateurin – in nur einem Jahr durchlaufen. «Diese erste Phase auf der Anlage ist eigentlich extrem wichtig, weil mir die erfahrenen Kollegen dabei so viel Wissen vermitteln können. Daher hätte ich mir gewünscht, die vollen zwei Jahre als Anlagenoperateurin arbeiten zu können.» Sie habe aber eingewilligt, da sie sich für den zweiten Block als Reaktoroperateurin nun entsprechend länger Zeit nehmen dürfe. «So erhalte ich die Gelegenheit, doch noch zusätzliche praktische Erfahrung zu sammeln.»
Grosse Verantwortung und Entscheidbefugnis
Als Pikett-Ingenieurin wird Laura Perez eine höchst verantwortungsvolle Position innehaben und die Schicht-Mannschaft beraten und unterstützen. «Der Pikett-Ingenieur ist nicht ständig bei der Schicht-Mannschaft. Er hat dadurch einen anderen Blick auf Auffälligkeiten. Er kann dann Befunde, welche die Schicht-Mannschaft gemacht hat, bestätigen oder auf eine andere Ursache hinweisen», erklärt Laura Perez. Ausserhalb der regulären Arbeitszeit ist der Pikett-Ingenieur oberste Entscheidungsinstanz auf der Anlage. «Er steht dann dem Schichtchef oder dem Wachgruppenchef in besonderen Betriebssituationen unterstützend zur Seite und trifft die notwendigen Entscheidungen. In Notfällen leitet und verantwortet der Pikett-Ingenieur alle erforderlichen Aktionen, und zwar so lange, bis sich der Notfallstab im Werk gebildet hat und die Zusammenarbeit auf kantonaler und nationaler Ebene übernehmen kann. In dieser Funktion stellt er auch die Verbindung zur nationalen Alarmzentrale und zum Ensi sicher.»
Sich in jungen Jahren für eine acht bis zehn Jahre dauernde Ausbildung zu entscheiden, ist gewiss nicht jedermanns Sache. Für Laura Perez hingegen war das keine Frage: «Ich habe das Privileg, alle zwei Jahre einen neuen Beruf kennenzulernen und auszuüben. Ausserdem haben mich die Verantwortlichen beim Bewerbungsgespräch sehr genau darüber aufgeklärt, was mich während dieser Ausbildung erwartet.» Auch die Schichtarbeit fällt Laura Perez nicht schwer: «Speziell ist eigentlich bloss die Spätschicht. In der Nachtschicht arbeitet man, wenn die anderen schlafen, und schläft, wenn die anderen arbeiten.» Ausserdem herrsche während der Nachtschicht eine besondere Atmosphäre: «Wir arbeiten und betreiben diese Anlage, während alle anderen schlafen.»
Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, in einem Kernkraftwerk zu arbeiten. Zu stark bleiben Unglücksfälle wie in Tschernobyl oder die eingangs erwähnte Havarie in Japan in den Köpfen der Menschen haften, und zu diffus sind die Ängste in der Bevölkerung vor dieser Form der Stromproduktion. Wie aber reagierte Laura Perez’ Umfeld auf ihre Absicht, in einem KKW zu arbeiten? «Meine Mutter war erst skeptisch. Dann habe ich ihr die Anlage einmal gezeigt, und nun findet sie es sehr spannend. Mein Vater und mein Freund haben mich stets unterstützt und gesagt, ich solle jenen Weg einschlagen, auf den mich mein Herz führt.» Wenn sie allerdings sonst – im Ausgang oder so – erzähle, wo sie arbeite, sei das Erstaunen jeweils gross. «Die Freundschaft gekündigt hat mir deswegen noch niemand.» Obwohl es manchmal schon mühsam sei, sich ständig rechtfertigen zu müssen.
«Im Moment gibt es schlicht keine Alternative zur Kernenergie»
Neben dem negativen Image hat die Kernenergie in der Schweiz momentan noch eine andere Baustelle zu bewältigen: ihre absehbare Endlichkeit. Obwohl die Energiestrategie 2050 in diesem Punkt ehrlicherweise nicht über eine blosse Absichtserklärung hinaus geht, ist der Bau neuer Kernkraftwerke in der Schweiz momentan ausgeschlossen. Warum entscheidet sich ein junger Mensch also für eine Ausbildung in einem Branchenzweig, dessen Ende besiegelt scheint? «Im Moment ist schlicht keine Alternative vorhanden, die finanzierbar oder genügend leistungsfähig wäre», sagt Laura Perez. «Sonnen- und Windenergie werden ein KKW nicht ersetzen können. Andere Energiequellen wie Gas oder Kohle sind wegen der Klimadebatte keine Option. Und etwas anderes haben wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht.» Sie wisse zwar nicht, was die Zukunft bringe. «Vielleicht taucht ja irgendeine Technologie wie weiland die Kernenergie auf, die all unsere Probleme löst. Dann müssen wir diese unbedingt nutzen.» Aber momentan sei halt keine solche Technologie in Sicht. «Und nur das Prinzip Hoffnung kann es ja auch nicht sein.»
Kommentare
Fredy Wingeier,
toller Bericht und extrem sachlich abgefasst. Laura du wirst dein Ziel PI erreichen.