Sicherer Systembetrieb bei geringer rotierender Schwungmasse
Lösungen für Grossstörungen des europäischen Verbundsystems
Die Versorgungssicherheit der elektrischen Energieversorgung und deren betriebliche Stabilität sind ein hohes Gut für europäische Industrienationen. Durch den Ausbau von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen und den entsprechenden Rückbau konventioneller Kraftwerke muss die Stabilität und Systemsicherheit für zukünftige Szenarien untersucht werden. Darauf aufbauend müssen frühzeitig Massnahmen ergriffen werden, um das Sicherheitsniveau des Gesamtsystems der elektrischen Energieversorgung weiterhin wie gewohnt in hohem Masse zu gewährleisten.
Durch die Verringerung konventioneller Kraftwerksleistung reduziert sich die im Netz befindliche Trägheit des Systems und damit die inhärente Erbringung von Momentanreserve. Je weniger Kraftwerke synchron am Netz sind, desto empfindlicher reagiert das System auf Störungen und desto grösser werden die Frequenzgradienten und -abweichungen bei auftretenden Leistungsungleichgewichten.
Methodik
Die Untersuchungen des dynamischen Frequenzverhaltens erfolgen zunächst vereinfacht an einem Punktmodell. Alle Einspeiser und Lasten werden bei diesem Modell rein bilanziell betrachtet. Ausgehend von dem bestimmten Kraftwerkseinsatz sowie der Einspeisung aus Erneuerbaren Energien (EE) und der Last werden für jede Stunde des Jahres die erforderlichen Werte für die Simulation des Frequenzverlaufes bestimmt. Diese sind im Wesentlichen:
- die Trägheit der am Netz befindlichen konventionellen Kraftwerke und der einspeisenden bzw. im Pumpbetrieb befindlichen Pumpspeicher,
- die aktuell einspeisende Leistung aus konventionellen Kraftwerken und Pumpspeichern,
- die aktuelle Last,
- die aktuelle EE-Einspeisung.
Die Simulationen des Frequenzgangs werden für wenige Sekunden nach Eintritt der Störung für das Entso-E-Gebiet sowie für abgeleitete System-Split-Szenarien jeweils für das gesamte Betrachtungsjahr durchgeführt. Bei den Simulationen für das gesamte Entso-E-Gebiet beträgt der normative Leistungsausfall gemäss [1] 3 GW. In den System-Split-Szenarien wird das Leistungsdefizit bzw. der Leistungsüberschuss durch das herrschende Import-/Exportsaldo des Inselnetzes in der jeweiligen Stunde bestimmt. [2]
Verbundbetrieb
Zur Bestimmung des Bedarfs an zukünftiger Momentanreserve werden verschiedene Stunden eines, mittels eines europäischen Marktmodells [3] berechneten, Betrachtungsjahres 2033 hinsichtlich hoher (Szenario 1), mittlerer (Szenarien 2 und 3) und geringer konventioneller Erzeugung (Szenario 4) ausgewählt. Bild 1 zeigt für die Szenarien die Frequenzverläufe als Funktion der Zeit nach einem normativen Leistungsausfall von 3 GW. Zur Vergleichbarkeit der jeweiligen Stunden wird die Anlaufzeitkonstante des Netzes (TAN) immer auf eine Bezugsleistung von 300 GW normiert. [4] Die Ergebnisse zeigen, dass theoretisch kein zusätzlicher Handlungsbedarf im Bereich der Momentanreserve notwendig ist, um die Frequenzänderungen innerhalb der festgelegten Grenzwerte gemäss [1] zu halten.
System-Split-Szenarien
Beim Auftreten von grösseren Störungen kann es zu einer Aufteilung des synchronen Verbundsystems in mehrere Teilsysteme kommen. Dieser Fall eines System-Splits entsteht durch eine Kaskade von verschiedenen Ereignissen und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. In [2] wird exemplarisch ein Szenario untersucht, in dem das europäische Verbundnetz in drei Inseln zerfällt (Bild 2). Dieses orientiert sich an der 3-Zonen-Störung aus dem Jahr 2006. [5] Die Berechnungen basieren auf dem Szenario für das Jahr 2035.
Der Frequenzgradient im Moment des Eintritts der Störung wird durch den Quotienten aus dem Leistungsdefizit/ -überschuss und der in den rotierenden Massen gespeicherten Energie bestimmt. Das Leistungsdefizit bzw. der Leistungsüberschuss ist proportional zum Frequenzgradienten, wohingegen die gespeicherte Energie der rotierenden Massen antiproportional zum Frequenzgradienten ist. Die grössten Frequenzgradienten sind somit bei einer grossen Leistungsdifferenz bei gleichzeitig geringer konventioneller Erzeugung zu erwarten.
Der maximal zulässige Gradient nach Eintritt einer Störung wird international zwischen 0,5 Hz/s und 4 Hz/s definiert. Für die Festlegung dieses Wertes ist zu beachten, ob dieser für die Frequenzänderung im Ursprung der Störung gilt oder einem Mittelwert (Sekante) über wenige Millisekunden (z.B. 100 ms) entspricht. Bei der zweiten Variante können schnelle Leistungserbringer bereits während dieser Zeit in das System eingreifen und den Frequenzgradienten verringern, auch wenn dieser im Ursprung deutlich grösser ist. [2]
Bild 3 zeigt die Jahresdauerlinie des Frequenzgradienten im Falle der 3-Zonen-Störung für die drei Regionen Nordost, Südost und West. Diese Darstellung ermöglicht die Ermittlung der Anzahl der Stunden eines Jahres, in denen Grenzwertverletzungen des zulässigen Frequenzgradienten auftreten. Es sind sowohl die Ergebnisse für das Szenario 2035 als auch die Ergebnisse für das Jahr 2013 dargestellt. Letztere entsprechen den farblich gestrichelten Linien. Die unterschiedlich angesetzten Grenzwerte des Frequenzgradienten sind darüber hinaus jeweils grau gestrichelt dargestellt. Für die Region Nordost ist zu erkennen, dass im Jahr 2035 der zulässige Frequenzgradient von 4 Hz/s für zirka 1000 Stunden des Jahres, der zulässige Frequenzgradient von 1,5 Hz/s für zirka 6000 Stunden und der zulässige Frequenzgradient von 1 Hz/s für zirka 7500 Stunden überschritten werden. Die Simulation der Ergebnisse aus dem Jahr 2013 ergibt, dass der zulässige Frequenzgradient von 4 Hz/s nicht überschritten wird, während Grenzwertverletzungen in der Region Nordost bei geringeren Schwellwerten auftreten. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Region Nordost durch die hohe installierte Leistung aus Windenergieanlagen in nahezu allen Stunden des Jahres ein Überfrequenzgebiet darstellt, während die Region West tendenziell ein typisches Import- und daher ein Unterfrequenzgebiet aufweist. Die grössten Grenzwertverletzungen treten vorwiegend in den Gebieten auf, welche durch Zerfall einer Insel ein Export- und somit Überfrequenzgebiet darstellen, da sich in Zeiten einer hohen EE-Einspeisung eine geringe rotierende Masse am Netz befindet.
Massnahmen zur Frequenzstützung
Zur Einhaltung der vorgegebenen Grenzwerte in den verschiedenen Zeitbereichen ist zusätzliche Trägheit aus rotierenden Massen bereitzustellen und ggf. zusätzlich eine schnelle Leistungserbringung notwendig.
Es wird zwischen direkt und indirekt gekoppelten Massnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte unterschieden. Letztere reagieren auf Störungen nur durch eine zuvor implementierte Umrichterregelung und mit einem gewissen Zeitverzug. Demnach ergibt sich eine schnelle, jedoch keine sofortige Reaktion.
Bild 4 zeigt die Auswirkungen unterschiedlicher Massnahmen auf die betrachteten Frequenzgradienten (grün) sowie auf die Frequenzgrenzwerte (grau).
Sind die Punkte ausgefüllt, so bedeutet dies, dass die jeweilige Grösse durch die entsprechende Massnahme beeinflusst werden kann. Es ist zu erkennen, dass nur die direkt gekoppelten Massnahmen (Phasenschieber, KW-Redispatch) einen Einfluss auf den Frequenzgradienten zum Zeitpunkt des Störungseintrittes haben und somit inhärent Momentanreserve bereitstellen können.
Sollen indirekt gekoppelte Anlagen zur Frequenzhaltung beitragen, müssen sie die aktuelle Frequenz messen, um auf eine Frequenzänderung mit einer zusätzlichen Wirkleistungseinspeisung bei Unterfrequenz bzw. mit einer Wirkleistungsreduktion bei Überfrequenz reagieren zu können.
Eine Möglichkeit zur schnellen Leistungsänderung bietet die Erfassung der Frequenz mittels einer Phasenregelschleife (Phase-Locked-Loop, PLL). Es erfolgt eine kontinuierliche Messung der Frequenz, wobei die Parametrierung der PLL einen Einfluss auf die Messgeschwindigkeit hat. Das verzögerte Verhalten des Messvorganges wird über ein Totzeitglied mit Tmess = 10 ms angenommen. Beim Auftreten einer Frequenzabweichung reagiert der Wechselrichter über eine implementierte Regelungsstrategie, welche als Proportionalglied abgebildet wird. Dieses proportionale Regelverhalten ist aus dem Abruf der heutigen Primärregelleistungsbereitstellung bekannt. Die Reaktionszeit des Wechselrichters, um die Wirkleistungseinspeisung zu erhöhen bzw. zu reduzieren, wird mit TWR = 10 ms angesetzt. Dabei wird die Reaktion des Wechselrichters aus Netzsicht abgebildet. Interne Regelschleifen bleiben unberücksichtigt. Nach heutigen Herstellerangaben werden Mess- sowie Reaktionszeiten im Bereich von 50 bis 500 ms erreicht. [6, 7] Im Vergleich zur konventionellen Primärregelleistungsbereitstellung mit einer Zeitverzögerung von zirka 30 s können somit erheblich kürzere Reaktionszeiten erzielt werden. Auf diese Weise kann das dynamische Verhalten des Systems stabilisiert werden, ohne zusätzliche rotierende Massen in das System zu integrieren.
Exemplarische Ergebnisse
Bild 5 zeigt für die international definierten Grenzwerte von 1 Hz/s und 4 Hz/s den zusätzlichen Bedarf an Momentanreserve und der zusätzlich benötigten schnellen Leistungserbringung aus indirekt gekoppelten Anlagen, um das entstehende Inselnetz beherrschen zu können. Dabei wird der Bedarf an schneller Leistungserbringung als virtuelle Netzanlaufzeitkonstante ausgewiesen. Sowohl der Bereich der Momentanreserve als auch die Erhöhung der virtuellen Netzanlaufzeitkonstante beziehen sich auf eine Bezugsleistung von 300 GW (Bild 1).
Die Ergebnisse zeigen, dass zur Beherrschung eines System-Split-Ereignisses die zusätzlich erforderliche Momentanreserve stark von dem definierten Frequenzgradienten abhängig ist. Der Bedarf an Momentanreserve kann zum einen reduziert werden, wenn ein grösserer Frequenzgradient zugelassen wird, und zum anderen nur ein Grenzwert als ein Mittelwert über ein definiertes Zeitintervall bindend ist (vgl. Variante 2). Dabei gehen die Ergebnisse von einer vollständigen Deckung des Bedarfs für alle Stunden des Betrachtungsjahres aus.
Ausblick
Die entwickelte und angewendete Methodik bildet eine Grundlage, um den Bedarf an Momentanreserve sowohl im Verbundbetrieb als auch in System-Split-Fällen zu analysieren. Neben der Nutzung rotierender Massen zur Wahrung der Systemstabilität besteht eine sinnvolle Alternative in der Nutzung einer schnellen Leistungsänderung durch Anlagen des Verteilnetzes. Diese können im Millisekundenbereich auf einer Frequenzänderung reagieren und auf diese Weise das System stützen.
Vor der Festlegung geeigneter Massnahmen zur Beherrschung eines Systems mit einer abnehmenden rotierenden Masse sind die folgenden Aspekte näher zu betrachten bzw. in den entsprechenden Gremien festzulegen:
- Welche Inselnetzkonstellationen sollen mit möglichst geringem Aufwand beherrscht werden? Welche Grösse sollen diese Inseln besitzen?
- Festlegung des maximalen Frequenzgradienten für das gesamte Entso-E-Gebiet. Gilt dieser Grenzwert zum Zeitpunkt des Störungseintrittes oder handelt es sich um einen Mittelwert?
- Festlegung der zulässigen Verzögerungszeiten von EE-Anlagen und Speichern.
Referenzen
[1] UCTE Operation Handbook, «P1 – Policy 1: Load-Frequency Control and Performance», 2009, verfügbar: www.entsoe.eu.
[2] Deutsche Energie-Agentur GmbH: «dena-Studie Momentanreserve 2030 – Bedarf und Erbringung von Momentanreserve im Jahr 2030», Berlin, 2016, verfügbar: www.dena.de.
[3] C. Spieker, J. Teuwsen, V. Liebenau, S. C. Müller, C. Rehtanz, «European electricity market simulation for future scenarios with high renewable energy production», IEEE PowerTech, S. 1–6, Eindhoven, 2015.
[4] Deutsche Energie-Agentur GmbH: «dena-Studie Systemdienstleistungen 2030 − Sicherheit und Zuverlässigkeit einer Stromversorgung mit hohem Anteil erneuerbarer Energien», Berlin, 2014, verfügbar: www.dena.de.
[5] UCTE: «Final Report, System Disturbance on 4 November», January 2004.
[6] European Wind Energy Association, «REserviceS Economic grid support services by wind and solar PV», 2014, verfügbar: www.reservicesproject.eu.
[7] U. Kerin, C. O. Heyde, U. Zimmermann, «Einflussnahme der Dezentralen Erzeuger auf die Systemsicherung im Haveriefall», 11. ETG/GMA-Fachtagung, Netzregelung und Systemführung,
11.–12.6.2013, München.
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