Fachartikel Infrastruktur , IT für EVU , Smart Grid

Augen im Stromnetz

Unterschiedliche Ansätze für das Verteilnetz-Monitoring

03.01.2017

Verschiedene Schweizer Forscherteams arbeiten zurzeit an Technologien für Monitoring und Steuerung von Stromverteilnetzen in Echtzeit. Die Systeme sollen künftig unter anderem in Stromnetzen mit dezentralen Stromerzeugern und Batteriespeichern eingesetzt werden, um deren normgemässen Betrieb sicherzustellen. Die GridEye-Technologie der Westschweizer Firma Depsys versucht, die Vorteile verschiedener Forschungsansätze in einem markttauglichen System zu vereinen.

Die dezentrale Produktion von erneuerbarem Strom mit Photovoltaikmodulen, Windturbinen oder Biogasanlagen ist eine Herausforderung für die Betreiber von Stromnetzen. Beim Bau wurden die Netze nämlich für Grosskraftwerke angelegt, also als ein hierarchisches System, bei dem der Strom von oben nach unten fliesst: Der Strom aus Grosskraftwerken und Import wird in Höchst- und Hochspannung übertragen (Netzebene 1 und 3), dann auf Mittel- und Niederspannung transformiert und zu den Stromkonsumenten gebracht (Netzebene 5 und 7). So entstand ein Stromnetz, dessen Zweige sich immer stärker verästeln. Heute fliesst die Energie allerdings nicht mehr nur «top-down»: Mehr und mehr entstehen dezentrale Kraftwerke in der Netzebene 7, zunehmend auch leistungsfähige Batteriespeicher, um z.B. Solarstrom zwischenzuspeichern, bis er von den Konsumenten abgerufen wird. Das bringt für die Netze Anforderungen, für die sie ursprünglich nicht ausgelegt worden sind.

Eine einzelne PV-Anlage bringt das Netz noch nicht aus dem Gleichgewicht. Bei einem massiven Ausbau der Solarstromgewinnung, wie beispielsweise in Süddeutschland, stossen bestehende Leitungen allerdings an ihre Grenzen. Die Folge sind im Extremfall Überlasten und normwidrige Spannungsspitzen und -schwankungen. Ein konventioneller Ansatz, dieses Problem zu beheben, wäre ein Ausbau der Verteilnetze – doch das ist teuer. Viele Akteure sehen den Königsweg daher in der Ausstattung der Verteilnetze mit Monitoring- und Steuerungssystemen. Dank solcher Messinfrastrukturen erhalten die Netzbetreiber Echtzeit-Informationen über die Leistungsflüsse in ihren Verteilnetzen. Mit diesem Wissen – so die Grundidee – können die Netzbetreiber dezentrale Kraftwerke, Speicher und Lasten so steuern, dass ein Netzausbau unnötig ist oder zumindest verzögert wird. Daneben haben Monitoring- und Steuerungssysteme eine Reihe weiterer Vorteile: Sie versetzen die Netzbetreiber in die Lage, den Kontrollbehörden (wie Elcom) die Einhaltung von Normen für den Netzbetrieb (wie EN  50160) nachweisen zu können. Oder sie sorgen dafür, dass nicht überdimensionierte und damit unnötig teure Transformatoren eingebaut werden.

Zentral versus dezentral

Stromnetze, die eine möglichst kostengünstige und zuverlässige Integration der erneuerbaren Energien erlauben, werden gern als «Smart Grid» bezeichnet. Blieb lange Zeit vage, wie ein Smart Grid konkret aussieht, bekommt der Begriff zunehmend Kontur. In der Schweiz arbeiten gegenwärtig mehrere Projektteams an Systemen, die für ihre Konzepte den Namen Smart Grid beanspruchen können. Ausgangspunkt ist jeweils die Idee, das Verteilnetz an verschiedenen Knotenpunkten – Trafostationen, Verteilkästen, Haushalten – mit Messgeräten auszurüsten und die dort gewonnenen Messdaten zu verarbeiten. Die Messdaten können an einen zentralen Server übermittelt werden, lokal bleiben oder beide Optionen erlauben.

In der zentralisierten Variante werden die Daten an einen Server übermittelt, dort verarbeitet und die Ergebnisse dafür verwendet, dezentrale Stromerzeuger, Speicher und Verbraucher so zu steuern, dass im Verteilnetz möglichst viele Anlagen ohne Komforteinbussen und möglichst wenig Netzausbau betrieben werden können. Genau das leistet das GridBox-System, das BKW und EWZ zurzeit bei zwei Pilotversuchen im Berner Oberland und in Zürich-Affoltern austesten. [1]

Dasselbe Ziel verfolgt das von der Alpiq-Intec-Gruppe industrialisierte System GridSense, allerdings mit einer anderen Technologie. [2] Die von der Fachhochschule der Südschweiz (Supsi) entwickelte Technologie besteht aus selbstständig arbeitenden Mess- und Steuerungsgeräten, die bei allen Haushalten eingebaut werden. Im Gegensatz zum GridBox-System werden hier also die Messdaten nicht in einem zentralen Server aufbereitet, sondern jedes GridSense-Gerät arbeitet autonom und setzt die gemessenen Spannungswerte selbstständig über einen Algorithmus in Steuerungsbefehle um. «Das GridSense-System braucht keinen zentralen Server und keine Datenverbindung zwischen einem Server und den im Netz verteilten Mess- und Steuerungsmodulen. Führt beim GridBox-System der Ausfall des zentralen Servers oder der Datenkommunikation zu einem Systemausfall, funktioniert das GridSense-Konzept weiter, auch wenn ein einzelnes Modul ausfällt», sagt Dr. Michael Moser, verantwortlich für das BFE-Forschungsprogramm Netze, aus dem beide Projekte gefördert wurden. «Das GridBox-System erfasst demgegenüber nicht nur mehr Messparameter, sondern auch häufiger. Das erlaubt eine Beschreibung des Netzzustands in bestmöglicher Qualität und es ermöglicht eine Optimierung des Gesamtnetzes, während die Optimierung beim GridSense-System sich auf eine lokale Umgebung bezieht.»

Die Vorteile kombinieren

Ideal wäre ein System, das die Vorteile beider Ansätze kombiniert. Genau das hat die Firma Depsys mit dem System GridEye entwickelt. Depsys (Bild 1) ging 2012 als Start-up aus der Fachhochschule Yverdon (HEIG-VD) hervor. Unterdessen zählt das Unternehmen mit Sitz im Technologiepark Y-Parc (Yverdon) acht Mitarbeiter.

Wie bei GridBox und GridSense werden auch bei GridEye Messboxen im Stromnetz eingebaut (Bild 2). Diese messen die Spannung an den jeweiligen Netzpunkten. GridEye unterscheidet sich aber von GridBox in einem wichtigen Punkt: Die Grid­Eye-Module tauschen untereinander Daten aus, müssen diese aber nicht zur Verarbeitung an einen zentralen Server übermitteln. Das GridEye-System arbeitet dezentral, das heisst, jedes seiner Module verarbeitet die Messdaten lokal in dem Netzknoten, an dem es installiert ist.

Für die Datenkommunikation zwischen den GridEye-Modulen können drei Technologien (PLC, Funk oder GSM) genutzt werden (Bild 3). Die jeweiligen Anforderungen und besten Lösungen für diese drei Technologien untersucht zurzeit ein Projekt der KTI (Kommission für Technologie und Innovation des Bundes) in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Yverdon.

«GridEye ist ein Mittelding zwischen einem zentralen und einem dezentralen System, und das macht seinen Charme aus», sagt BFE-Netzexperte Michael Moser. Bei Bedarf kann GridEye seine dezentral aufbereiteten Daten auch an ein zentrales Netzleitsystem (Bild  4) übermitteln und erlaubt damit eine Netz­optimierung über das Gesamtnetz hinweg, wie das auch das GridBox-System leistet. Für das GridBox-System ist eine funktionierende Datenübermittlung an den zentralen Server vital, nicht so für das GridEye-System: Während bei einer gestörten Übertragung der Daten an das Netzleitsystem mit GridBox keine Gesamtoptimierung des Netzes mehr möglich ist, kann mit den im Netz verteilten GridEye-Modulen weiterhin ein Quasi-Optimum erreicht werden. In diesem Punkt ist das GridEye-System mit dem GridSense-System vergleichbar, hat gegenüber diesem aber den Vorteil, dass seine Module nicht ganz auf sich alleine gestellt sind, sondern Daten der Nachbarmodule mit einbeziehen, womit das GridEye-System über die Netzumgebung besser informiert ist. Michael Mosers Fazit: «Im ungünstigsten Fall – bei Ausfall der Datenverbindung – arbeitet GridEye ähnlich wie GridSense. Im Normalzustand – bei funktionierender Datenverbindung – hat es zusätzlich einen Teil der Funktionalität des GridBox-Systems.»

Die Informationen lassen sich für das Netzmonitoring nutzen: Die Industriellen Werke Yverdon haben seit 2014 insgesamt etwa zehn GridEye-Module angeschafft und überwachen mit ihnen ein Netzgebiet mit rund 1000 Stromkonsumenten. Seit 2014 haben ferner zirka zehn GridEye-Module während 15 Monaten einen Test mit dem Westschweizer Elektrizitätsversorger Romande Energie erfolgreich bestanden.

Neuartiger Algorithmus

Im Rahmen des BFE-finanzierten Projekts Smile (2014 bis 2016) geht Depsys nun einen Schritt weiter: Die Forscher haben gemeinsam mit der ETH Lausanne und der Fachhochschule Yverdon einen neuartigen Algorithmus entwickelt, der jedes seiner Module in die Lage versetzt, aus den am jeweiligen Knotenpunkt gemessenen Spannungsdaten Änderungen im Gesamtnetz zu erkennen und zu analysieren. Der Algorithmus berechnet in Zeitintervallen von 60 s den Sensitivitätskoeffizienten (Bild 5). Dieser quantifiziert für einen bestimmten Netzknoten die Spannungsänderung, wie sie durch eine Veränderung der ein- oder ausgespeisten Wirk- und Blindleistung hervorgerufen wird. Aus dem Sensitivitätskoeffizienten kann man ableiten, wie der «Sollwert» der dezentralen Kraftwerke und Speicher gesetzt werden muss, um die Spannungswerte an allen Punkten innerhalb der Toleranz zu halten. Die Art, wie diese Steuerung erfolgt, ist offen – verschiedene Anwendungen oder Algorithmen können implementiert werden, z.B. Erhöhung der Netzwerksicherheit, Optimierung des Eigenverbrauchs oder Minimierung der Kosten. Zurzeit wird die Technologie patentiert, insbesondere deren Fähigkeit, diese Schätzung ohne Kenntnis der Netztopologie durchzuführen.

Von 2017 bis 2020 will der Westschweizer Elektrizitätsversorger Romande Energie das mit dem neuen Algorithmus ausgestattete Netzmonitoring- und Steuerungssystem (Bild 6) in einem grossen Feldversuch in Rolle zwischen Lausanne und Genf testen.

Auf Industriestandards ausgerichtet

Für das Mittel- und das Niederspannungsnetz dürften bald mehrere Systeme für Monitoring und Steuerung zur Verfügung stehen. Welches von ihnen die Bedürfnisse der über 600 Schweizer Verteilnetzbetreiber am besten abdeckt, werden die nächsten Jahre zeigen. Wichtige Entscheidungskriterien sind neben der Funktionalität auch die Kosten. Ein finanzieller Vorteil könnte Netzbetreibern daraus erwachsen, wenn ein Netzmonitoring- und Steuerungssystem erlaubt, die heute in den Netzen verwendeten Schutzsysteme (z.B. für Kurzschlusserkennung) zu ersetzen. Genau dies könnte eine neue Technologie ermöglichen, welche die ETH Lausanne gemeinsam mit den Industriellen Werken von Lausanne (SIL) entwickelt. Die Netzüberwachung und -steuerung funktioniert hier ähnlich wie beim GridBox-System, allerdings unter Einsatz von geeichten, nach internationalen Normen arbeitenden Messmodulen (sogenannte Phasor Measurement Units/PMU). Mit der Einhaltung der Industriestandards erfüllt das Lausanner System eine wichtige Voraussetzung, um im Markt Fuss fassen zu können.

Auch Depsys-Mitgründer und -CEO Michael De Vivo hat für sein GridEye-System die Zielmärkte schon fest im Blick. Die Technologie des Yverdoner Unternehmens könnte für Verteilnetzbetreiber in China, Indien oder Afrika interessant sein, weil sie das GridEye-System auch einsetzen können, wenn sie die Parameter ihrer Netze (Topologie) nur ungenügend kennen. De Vivos grösste Hoffnung ruht aber auf potenziellen Kunden in Deutschland und in den nordischen Staaten. Dort gibt es – wie in der Schweiz – eine Vielzahl von Verteilnetzbetreibern, und der Ausbau dezentraler Kraftwerke schreitet zügig voran. Ideale Voraussetzungen also, wie Unternehmer De Vivo meint, um als Firma ein Bein in die neue Welt der transparenten Verteilnetze zu setzen.

Referenzen

[1] Benedikt Vogel, «Stromverteilnetze mit Durchblick», www.bfe.admin.ch/CT/strom

[2] Benedikt Vogel, «Schwarmintelligenz für das Stromnetz», www.bfe.admin.ch/CT/strom

Link

  • Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Netze: www.bfe.admin.ch/CT/strom
Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

Stromnetz-Überwachung

Um zu wissen, was in einem Netz passiert, werden schon lange Geräte zur Strom- und Spannungsmessung eingesetzt. Eine moderne Form der Messinfrastruktur sind Smart Meter, wie sie beispielsweise seit 2008 im Stromnetz von Arbon (TG) eingebaut sind und dort nicht nur die Fernauslesung der Stromzähler erlauben, sondern dem Netzbetreiber Vorteile beim Lastflussmanagement und bei der Behebung von Netzstörungen geben.

Noch einen Schritt weiter gehen Messgeräte, die zeitsynchron Amplitude von Strom und Spannung – und damit den dazwischen liegenden Phasenwinkel – sowie Power-Quality-Messgrössen wie Klirrfaktor und Oberwellen mit hoher Abtastrate erfassen. Sogenannte Phasor Measurement Units (PMU) wie die GridBox sind zusätzlich mit einem GPS-Empfänger ausgerüstet, um jede Messung mit einem Zeitstempel zu versehen. Ihr Vorteil: Die gemeinsame Auswertung der zeitsynchronen Daten unterschiedlicher PMU erlaubt die Bestimmung und Optimierung des Netzzustands in Echtzeit. Allerdings benötigt die Übermittlung der hochaufgelösten Daten eine sehr grosse Bandbreite. Dies entfällt beim dezentral konzipierten GridEye-System, das ohne die präzise Zeitsynchronisation seiner Module auskommt.

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