Fachartikel Infrastruktur , IT für EVU

Abschaffung der Schaltsekunde

Empfehlung für Energieversorgungsunternehmen

03.01.2017

Unsere legale Zeit MEZ basierend auf UTC (koordinierte Weltzeit) wird auch künftig alle paar Jahre Aussetzer durch Schaltsekunden bekommen. Nach einem Vorschlag des Schweizer Technischen Komitees TK  57 beantragte die Vollversammlung der IEC  TC  57 von der globalen Zeithüterin ITU (ex CCITT) die Abschaffung der Schaltsekunde. Obwohl technische Gründe dafür sprechen, vertagte die ITU-R im November 2015 die Entscheidung auf 2023. Die EVUs wären gut beraten, ab jetzt statt UTC die Atomzeitskala TAI einzuführen.

Die koordinierte Weltzeit UTC, von der unsere Mitteleuropäische Zeit MEZ (UTC+1) im Winter bzw. MEZS (UTC+2) im Sommer abgeleitet ist,  basiert auf dem Zenit der Sonne um 12:00:00 im Frühlingspunkt auf dem Meridian der Sternwarte von Greenwich – darum hiess diese Zeit früher «Greenwich Mean Time», GMT. Dies ist eine mittlere Zeit, wie der Name sagt, denn der Zenit schwankt im Laufe des Jahres wegen der Ekliptikschiefe und der elliptischen Umlaufbahn bis zu 16 Minuten um diese mittlere Sonnenzeit (von den Astronomen UT1 genannt). Also ist es selten Mittag um 12:00:00, selbst in Greenwich, aber die mittlere Zeit ist astronomisch wohl definiert.

Basis für die Sekunde

Die Erdrotation verlangsamt sich, Hauptursache ist der Energieverlust in den Gezeiten, die vom Mond angeregt werden. Die Erdrotation verlangsamt sich aber nicht stetig: Zum Beispiel führt das jetzige Schmelzen des Eises am Nordpol zu einer messbaren Verlangsamung der Erdrotation, da die Wassermas­sen gegen den Äquator wandern. Aber es gab Zeiten zwischen 1970 und 2000, wo die Erdrotation sich etwas beschleunigt hat, vermutlich wegen Strömungen im Erdinneren. Zurückgerechnet war zur Zeit Christi der Tag um etwa 40 ms kürzer als heute; Die Dinosaurier erlebten Tage von etwa 22 Stunden.

Darum wurde längst die Tagesdauer als Basis der Sekunde aufgegeben, und die Sekunde zunächst durch die Dauer der Erdumlaufbahn definiert. Heute wird die Sekunde durch ein Netzwerk von etwa 100 Atomuhren festgelegt. Die Atomsekunde entspricht ziemlich genau 1/86 400 der Tagesdauer am 1. Januar 1958, als die Atomuhren kalibriert wurden. Seither hat sie keinen astronomischen Bezug mehr. Sie ist die Basis der TAI Zeitskala (Temps Atomique International), eine vollkommen stetige Skala.

Da sich die Erde seit 1958 verlangsamt hat, läuft die Atomuhr schneller als eine Uhr, die auf der Erdrotation des heutigen Tages basiert. Jeden Tag müssten wir deshalb unsere Uhren um 2 ms zurückstellen. Dies wäre auch dann der Fall, wenn die Erdrotation von jetzt an konstant bleiben würde.

Wenn an einem Ort die Sonne um 12:00:00 im Zenit steht, liegt 24 (Atom-)Stunden später die Sonne etwa 1 m weiter im Osten im Zenit. Nach anderthalb Jahren ist die Mittagsonne etwa 500 m nach Osten gerutscht, der kumulierte Fehler beträgt etwa eine Sekunde.

GMT wurde 1972 ersetzt durch die koordinierte Weltzeit UTC (Temps Universel Coordonné), mit der gleichen Sekundendefinition der Atomuhren. Damit die Sonnenzeit und die Atomzeit nicht zu stark auseinanderlaufen, wird ab und zu eine Schaltsekunde eingeführt, das heisst, die Uhr wird um eine Sekunde zurückgesetzt, damit die Erde Zeit hat, nachzuholen, und die Sonne (theoretisch) wieder im Zenit um 12:00:00 UTC in Greenwich steht.

Wegen der unregelmässigen Verlangsamung können Schaltsekunden nicht im Voraus berechnet werden. Zum Beispiel gab es keine Schaltsekunden zwischen 1999 und 2004, als die Erdrotation sich kurz beschleunigte (fast hätte man eine negative Schaltsekunde einführen müssen). Wenn die Abweichung UTC–UT1 0,9 s erreicht, beschliesst das BIPM (Bureau International des Poids et Mesures), Dienst für Erdrotation und Referenzsystem (IERS), sechs Monate im Voraus die Einführung einer Schaltsekunde, und zwar entweder am 31. Dezember oder am 30. Juni eines Jahres um Mitternacht UTC. Dann geht die Uhr statt auf 00:00:00,000 auf 23:59:59,000  zurück (Bild).

Für technische Anwendungen ist UTC jedoch seit Langem ungenügend. Wenn ein Navigationsgerät darauf basieren würde, würde ein Flugzeug bis 500 m neben der Piste landen, darum arbeiten GPS und Galileo mit der linearen Zeitskala TAI.

Auswirkungen der Schaltsekunde

Um die Auswirkung der Schaltsekunde anschaulich zu machen, betrachten wir eine grössere Diskontinuität: die Einführung der Sommerzeit. Im Frühling fehlt eine ganze Stunde (d.h. am 27. März 2016 kann kein Ereignis um 2:30 am Morgen stattfinden, denn die Uhr geht direkt von 01:59:59 auf 03:00:00. Umgekehrt kann nicht festgestellt werden, ob am 30. Oktober 2016 ein Ereignis um 02:29 vor einem Ereignis um 02:31 stattfindet, denn die Uhr geht um nach 02:59:59  wieder auf 02:00:00 zurück: diese Zeiten gibt es zweimal. Zum Glück passiert die Umstellung in der Nacht, sonst würde mancher den Zug verpassen oder eine Stunde zu früh zum Rendezvous kommen. Es ist darum nicht möglich, Zeitspannen nach der lokalen Zeit zu berechnen, ohne Buch zu führen über die Zeitumstellungen, zum Beispiel ohne zu wissen, wie viele Stunden zwischen dem 30. Mai und dem 31. Oktober verstrichen sind. Denn der Umschalttag variiert von Jahr zu Jahr und von Land zu Land. Das zeigt einmal mehr die Unsinnigkeit der Sommerzeit, die das Schweizer Volk 1978 zwar abgelehnt hat, die Durchsetzungsinitiative aber blieb aus.

Um auf die Schaltsekunde zurückzukommen: Sowohl die Sommerzeit als auch die Schaltsekunde erlauben es nicht, die Reihenfolge zweier Ereignisse und die Dauer einer Zeitspanne ohne Zusatzinformation zu berechnen.

Wir kennen zwar Schaltjahre (2016 zählt dazu), bei denen ein Schalttag 29. Februar eingefügt wird, damit die Frühlings Tag-und-Nachtgleiche um den 20. März stattfindet. Nur unterscheidet man sehr wohl den 28. Februar vom 29. Februar und der Algorithmus für die Berechnung des Schaltjahres ist seit 1592 fest. Hingegen kann man die Schaltsekunde nicht von der vorherigen Sekunde unterscheiden, es gibt keine Darstellung für 23:59:60 in einem Computer, denn seine Uhr ist ein einfacher Sekundenzähler. Kommt noch dazu, dass der Schaltpunkt unbestimmt ist.

Börsentransaktionen werden weltweit mit UTC gestempelt. Bei High Speed Trading mit zig-Tausenden von Transaktionen pro Sekunde ist die Schaltsekunde problematisch: Da kann man nicht mehr feststellen, in welcher Reihenfolge die Transaktionen während zwei Sekunden stattfinden. Hier ist die Lösung einfach: Es werden keine Börsentransaktionen um diese Zeit getätigt. Dies ist auch kein Problem, denn die Börse von Tokyo (UTC+9) öffnet erst um 9:00, und in Australien (UTC+10) erst um 10:00, wenn die Schaltsekunde bereits eingefügt wurde.

Herausforderungen bei der Stromübertragung

Am meisten Kopfzerbrechen bereitet die Schaltsekunde bei der elektrischen Übertragung. Als die Elektrizitätswerke die UTC-Zeitskala vorschrieben (vor 1972), wusste man nicht, dass Schaltsekunden kommen würden. Störschreiber arbeiten mit UTC. Zum Glück finden Störungen während einer Schaltsekunde selten statt und es störte am Anfang nicht. Schutzalgorithmen für Differenzialschutz berechnen Zeitunterschiede. Innerhalb einer Unterstation genügt zwar die relative Zeit; zwischen Unterstationen aber, wenn die Schutzwerte über weiten Datennetzen mit zufälligen Verzögerungen ausgetauscht werden, werden die Messwerte mit der absoluten Zeit gestempelt und Schaltsekunden berücksichtigt, um Fehlschaltungen zu verhindern.

Seit einigen Jahren werden grosse elektrische Netze durch Vergleich der Strom- und Spannungsphasen zwischen den Knoten überwacht und geschützt. Dieses WAMPACS (Wide Area Monitoring, Protection and Control System) braucht die absolute Zeit, um die Phasen verschiedener Knoten im Netz (Phasoren) zu vergleichen. Die Berechnung einer Messreihe, die eine Schaltsekunde überspannt, ist problematisch, denn die Interpolationsalgorithmen können nicht wissen, dass eine Sekunde darin zweimal vorkommt und welche Phasoren dazugehören. Während der Schaltsekunde könnten Fehlhandlungen resultieren. Bis jetzt wurden keine gravierenden Störungen bekannt, es wurden lediglich Zwischenfälle in Deutschland am 30. Juni 2015 gemeldet. Der Ursprung ist unklar, aber beim Interoperabilitätstest der Hersteller in Brüssel im November 2015 zeigte sich, dass viele geprüfte Schutz- und Steuerungsgeräte bei einer Schaltsekunde stotterten, z.B. die Umstellung bei der falschen Sekunde machten.

Auf Anregung des Schweizer Nationalkomitees verlangte das IEC Technische Komitee 57 von der ITU (International Telecommunication Union) die Abschaffung der Schaltsekunde in UTC, oder wenigstens die Umbenennung von UTC, um Verwechslungen auszuschliessen. Die ITU-R, ein Organ der UNO, genauer die World Radiocommunication Conference WRC-15, ist die Hüterin der Zeit, aus der Zeit, als Prangins (2011 abgestellt), Frankfurt (DCF77) und Boulder (WWV) die Zeit per Radio verteilten, bevor diese Sender durch die Naviga­tionssatelliten GPS abgelöst wurden.

Die ITU-R hat jedoch am 19. November 2015 in Genf die Entscheidung auf 2023 verschoben. Es ist wie bei der Sommerzeit: Das gleiche Land (Frankreich), das während der Erdölkrise 1976 die Sommerzeit in Europa einführte, verlangte 2015 erfolglos deren Abschaffung. Zu sehr hat sich der Mechanismus eingebürgert, die Freizeitindustrie profitiert davon. Aber verschiedene Länder wie China und Russland haben die Sommerzeit bereits abgeschafft, und sie könnte auch anderswo abgeschafft werden.

Schweizer Elektrizitätsversorgungs-unternehmen können eine Lehre daraus ziehen: Die einzige zuverlässige Zeitskala ist die Atomzeit TAI. Alle technischen Einrichtungen wie Schutz und Ereignismelder sollen mit TAI arbeiten. UTC und die lokale Zeit (MEZ/MEZS) sind lediglich für den Menschen (z.B. Anzeigedisplays, Reports) wichtig, und sollen von TAI abgeleitet sein. Bereits heute unterstützt die Norm IEC 61850 diese Skala. Das Protokoll IEC/IEEE 1588 verteilt TAI sowie UTC, im Gegensatz zum Internet-Protokoll NTP. Darum sollten die EVUs anstatt UTC in allen Ausschreibungen und Pflichtenheften die Zeitskala TAI für die Automation vorschreiben.

Autor
Prof. Dr. Hubert Kirrmann

war Mitglied CES/TK 57 – Netzleit­technik und zuge­hörige Kommunika­tions­technik.

  • Solutil
    5405 Baden

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