Ändernde Mobilitätsbedürfnisse
Asut-Kolloquium vom 17.11.2021
Die Corona-Epidemie hat der Mobilität einen Dämpfer versetzt. Doch die Tendenz bleibt ungebrochen: Der Personen- und Güterverkehr auf Strasse und Schiene nimmt weiter zu. Wie lässt sich die stetig weiterwachsende Nachfrage mit den vorhandenen Infrastrukturressourcen, der zunehmenden Sensibilität für Klimafragen und dem Bedürfnis nach neuen Lebens- und Arbeitsmodellen vereinen? Die Antwort, das zeigte das 21. Asut-Kolloquium, hat sehr viel mit Digitalisierung zu tun.
Es steht ausser Frage, dass die Pandemie in der Mobilität ein Umdenken gebracht hat. Büroarbeit, Meetings, Geschäftsreisen, aber auch Unterricht, Shopping und private Treffen mussten auf digitale Kanäle ausweichen. Und siehe da, es ging. Aus der Notlösung wurde sehr rasch ein Mehrwert: eine neue Art, die Arbeit, Freizeit und damit die Mobilität zu denken. Möglich machte es die gute digitale Infrastruktur, über die wir in der Schweiz verfügen.
Doch welche dieser Veränderungen wird auch nach Corona Bestand haben? Welche von der Bevölkerung stark nachgefragten neuen Arbeits- und Lebensmodelle können tatsächlich ein fester Teil der Post-Covid-Normalität werden? In welche Richtung geht die Reise? Diesen Fragen ging das 21. Asut-Kolloquium in vier Themenbereichen nach. Erster Redner des Themenblocks «Ändernde Bedürfnisse» war Jürg Grossen, GLP-Präsident und einer der Pioniere einer nachhaltigeren Mobilität in der Schweiz. Für Grossen steht zweifelsfrei fest, dass die durch die Pandemie beschleunigten gesellschaftlichen Trends Bestand haben werden. Klar ist für ihn auch, was das bedeutet: Die mobile, klimaneutrale Schweiz der Zukunft muss statt in Asphalt und Beton, in intelligente digitale Tools und Systeme investieren. Sie muss Verkehr und Gebäude (die zu smarten Ladestationen werden) massiv elektrifizieren. Sie muss vorhandene Infrastrukturen effizienter nutzen, endlich ein flächendeckendes Mobility Pricing einführen und Rahmenbedingungen schaffen, die Plattformökonomie fördern und Innovation ermöglichen, statt sie wegzuregulieren.
Trends untersucht auch Marta Kwiatkowski Schenk, stellvertretende Forschungsleiterin beim Gottlieb Duttweiler Institute GDI. Im Zug der Klimaveränderung sieht sie eine neue Generation von bewussteren und anspruchsvolleren Konsumentinnen und Konsumenten, für die Teilen und Zugang wichtiger sind als Besitz. Das gilt auch für die Mobilität: Auch hier wird der Zugang jederzeit und von überall her nachgefragt und gleichzeitig vorausgesetzt, dass Mobilität möglichst bequem verfügbar und umweltverträglich organisiert werde. Für Kwiatkowski Schenk bedeutet das: Neue Pricingmodelle sowie über eine einzige smarte Schnittstelle zugängliche und im Streamingmodus bezahlbare All-inclusive-Angebote.
Verändertes Bewusstsein, veränderte Bedürfnisse
Für Ines Kawgan-Kagan, Geschäftsführerin des AEM Institute, ist nicht länger akzeptabel, dass Mobilitätslösungen praktisch ausschliesslich aus männlicher Sicht konzipiert werden. Eine nachhaltige Mobilität der Zukunft könne nicht allein als technische Lösung für ein technisches Problem verstanden werden, sondern setze einen viel umfassenderen gesellschaftlichen Zugang voraus. Kawgan-Kagan plädierte deshalb für eine inklusive Mobilitätsplanung, die sich an den Bedürfnissen und Ansprüchen aller Bevölkerungsgruppen orientiere. Den gleichen Ansatz vertrat Shahid Talib, Director Smart City des niederländischen Bauunternehmens Heijmans. Lebenswerte urbane Umgebungen zu gestalten, könne nur dann gelingen, wenn die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt würden. In Bezug auf die Mobilität bedeutet das, dass Heijmans, verstärkt auf bequeme, flexible und umfassende Mobility-as-a-Service-Angebote setzt, die den Individualverkehr überflüssig machen und vorhandene Verkehrsträger optimal verknüpfen.
Der zweite Themenblock beschäftigte sich mit der neuen Arbeitswelt und deren Auswirkung auf die Logistik. Artur Luisoni, Partner und Fachverantwortlicher Mobilitätsberatung, Rapp Trans AG, zeigte, dass Kundenbedürfnisse mächtige Treiber des Mobilitätsverhaltens sind. Oder anders gesagt: Smarte digitale Lösungen allein können nur dann zu einer nachhaltigeren Mobilität führen, wenn sie auf Seite der Nutzerinnen und Nutzer auch tatsächlich nachgefragt werden. Damit dies geschieht, brauchen wir einen neuen Lebensstil der kurzen Wege. Dies belegte der Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht, Professor an der Hochschule Luzern-Wirtschaft (HSLU) anhand einer Studie zum in der Schweiz noch relativ neuen Phänomen der Co-working Spaces. Die Resultate legen nahe, dass solche Angebote zumindest im städtischen Umfeld zu einer Reduzierung der zurückgelegten Wege und somit des CO2-Ausstosses führen können.
Wege bündeln, Privatverkehr unnötig machen
Um eine Reduktion und Bündelung der zurückgelegten Wege ging es auch im Referat von Dominique P. Locher, Unternehmer & Boardmember der Farmy AG und Online-Food-Pionier. Locher, der mit LeShop.ch einen der ersten Online-Supermärkte der Welt mitaufgebaut hatte, zeigte am Beispiel des Quick-Commerce-Startups Jiffy auf, wie nachhaltig E-Food-Schnelllieferdienste sein können: Denn die Alternative sieht zurzeit noch so aus: Fast ein Viertel der Wege, die Schweizerinnen und Schweizer täglich zurücklegen, gehen aufs Konto des Einkaufens. All diese Wege könnten gebündelt und die Waren durch E-Bikes oder E-Lieferwagen von lokalen Warenhubs aus verteilt werden. Das Potenzial ist gross: Zurzeit sind Lebensmittel in Europa die Detailhandelskategorie mit der geringsten Online-Präsenz.
Im Zentrum des dritten Themenblocks standen Freizeit und Reisen und die Frage, wie sich der Trend zu einer nachhaltigeren Mobilität auf die Tourismusbranche auswirken könnte. Nach Ansicht von Werner Schindler, CEO von railtour suisse sa, wird der Tourismus nichts von seiner Bedeutung einbüssen – zurzeit steuert er 10 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei. Voraussetzung sei allerdings, dass sich die touristische Mobilität den neuen Gegebenheiten anzupassen wisse. Daran arbeitet beispielsweise die Tourismusdestination Andermatt: Sie will eine multimodale Infrastruktur entwickeln, die den privaten Besitz von Fahrzeugen unnötig macht, wie Thomas Landis, Head of Corporate Development bei der Andermatt Swiss Alps AG aufzeigte.
Smart, inklusiv, bedarfsgerecht
Einen der Höhepunkte des Tages stellte der vierte Block dar. Unter dem Titel «Enabling change» wurden am Beispiel von Estland und der Stadt Hamburg zwei erfolgreiche Transformationsprozesse hin zu einer smarteren, bedürfnisgerechten und inklusiveren Mobilität vorgestellt. Mit beeindruckender Selbstverständlichkeit vertrat Anett Numa, Digital Transformation Adviser bei e-Estonia, die Ansicht, dass eine konsequent datenbasierte smarte Mobilität schlicht die einzige vernünftige Lösung sei. Und von der Bevölkerung auch mitgetragen werde, solange seitens der Anbieter und der Behörden Offenheit und Transparenz herrsche. Auch für Martin Huber, der in Hamburg das Amt für Verkehr und Strassenwesen leitet, liegt es auf der Hand: Nur mithilfe von digitalen Tools kann es gelingen, die unterschiedlichen Ansprüche des öffentlichen, des Individual- und des Wirtschaftsverkehrs unter einen Hut zu bringen und gleichzeitig auch den Anforderungen an Luftqualität und Klimaschutz Rechnung zu tragen. Dass Hamburg sich so resolut auf den Weg zur umfassenden Modernisierung seiner städtischen Infrastrukturen und Prozesse gemacht hat, hängt damit zusammen, dass die Hansestadt dieses Jahr Gastgeberin des ITS-Weltkongresses war. Die jahrelange Vorbereitung auf diese weltweit sichtbare Gastgeberrolle habe massgeblich dazu beigetragen, die verschiedensten staatlichen und privat-wirtschaftlichen Akteure an einen Tisch zu bringen und zur Kooperation zu bewegen.
Zusammenspannen, Silos niederreissen, Mobilität ganzheitlich verstehen, smart, bedarfsgerecht und inklusiv gestalten und sich bewusst sein, dass technologische Lösungen allein nicht genügen: So lässt sich das Fazit der abschliessenden Podiumsdiskussion umreissen, an der Philipp Antoni, Co-Founder von notime (Schweiz) AG, Gery Balmer, Vizedirektor des Bundesamtes für Verkehr, Beda Viviani, Projektleiter Logistik bei Cargo sous terrain AG, Raoul Stöckle, CEO des Switzerland Innovation Park Biel, und Angela van Rooden, Projektleiterin Digitalisierung bei Innosuisse, die Tagung kommentierten.
Neben dem kontrastreichen Überblick über aktuellste Trends und Debatten im Mobilitätsbereich bot die von Asut gemeinsam mit dem Bundesamt für Strassen (Astra), der Schweizerischen Verkehrstelematik-Plattform (IST-CH) und dem Touring Club Schweiz (TCS) ausgerichtete Fachtagung den rund 300 Teilnehmenden aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung auch den idealen Rahmen für Gespräche und Kontakte. Für einmal nicht nur online, sondern auch vor Ort im Berner Kursaal.
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Die Referate und weitere Informationen zum 21. Asut-Kolloquium sind auf der Asut-Website verfügbar.
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