Frischzellenkur für Giganten
Die Sanierung von Staumauern ist aufwendig und verlangt genaue Planung
Talsperren sind zwar gross und mächtig, doch auch an ihnen nagt der Zahn der Zeit. Vor einer Sanierung sind aber umfangreiche Planungsarbeiten und Vorbereitungen nötig, wie das Beispiel Zervreila zeigt.
Die Erkenntnis über die eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit trifft einen wie die unbarmherzige rechte Gerade eines Schwergewichts-Weltmeisters. Wer schon einmal am Fusse einer der zahlreichen Talsperren in den Schweizer Bergen stand, kennt dieses Gefühl. Hunderte, Tausende, ja Millionen Tonnen Beton ragen vor einem auf. Und hinter dieser gewaltigen Mauer befindet sich noch ein Vielfaches dieses Gewichts in flüssiger Form; bereit, im Bedarfsfall zur Stromproduktion für Schweizer Betriebe und Häuser eingesetzt zu werden.
Umso bemerkenswerter erscheinen diese Bauten, wenn man bedenkt, wann diese Meisterwerke schweizerischer Ingenieurs- und Baukunst zum Teil bereits erstellt worden sind. Einige dieser Bauwerke – wenn auch eher kleinere wie der Lago Bianco im Kanton Graubünden – sind nämlich schon über 100 Jahre alt. Die meisten datieren aber aus den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Obwohl man damals schon über relativ moderne Methoden und Gerätschaften verfügte, blieb der Zugang zu den im hochalpinen Gebiet gelegenen Bauplätzen damals noch sehr umständlich und gefährlich. Gefahrlos und komplex ist der Zugang auch heute nicht, aber dank moderner Hilfs- und Kommunikationsmittel sind Baustellen auch in entlegenen und schlecht zugänglichen Gegenden relativ einfach erreichbar.
Wasserkraft bleibt der Hauptenergieträger
Das ist gut so, denn Wasserkraft ist nach wie vor das Alpha und Omega der Stromproduktion in der Schweiz. 56 % des in der Schweiz produzierten Stroms stammen aus Wasserkraft, was diese entsprechend relevant für das nationale Energiesystem macht. Entsprechend wird die Wasserkraft in der Schweiz auch unterstützt. Auch in der Energiestrategie 2050 spielt sie eine grosse Rolle: Ihr Potenzial soll noch besser genutzt werden als heute.
Vor Jahresfrist stand an dieser Stelle, dass die Wasserkraft trotz ihrer Systemrelevanz mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfe. Das hat sich bisher noch nicht geändert. Aber immerhin sieht die ES 2050 unter bestimmten Umständen eine Unterstützung der heimischen Wasserkraft vor. Das Vertrauen in die Wasserkraft als saubere, nachhaltige und nie versiegende Energiequelle ist in der Schweiz denn auch ungebrochen. Und mit der ES 2050 können die Betreiber von Wasserkraftwerken auf verbindliche Rahmenbedingungen abstützen, wenn sie über die dringend notwendigen grossen Investitionsvolumina entscheiden müssen, welche eine solche Infrastruktur verlangt. Denn, um veränderten rechtlichen Vorgaben und gestiegenen gesellschaftlichen Anforderungen nachkommen zu können, müssen Anlagen, die ihren Dienst schon seit Jahrzehnten zuverlässig leisten, unbedingt modernisiert werden. Schliesslich geht es um nichts weniger als um die Versorgungssicherheit.
Zwei Jahre Planung und Vorbereitung
Ein aktuelles solches Sanierungsprojekt wird im Augenblick im Kanton Graubünden umgesetzt. Die Kraftwerke Zervreila AG (KWZ) saniert im Zeitraum Oktober 2017 bis Juni 2019 die Nebenanlagen der Staumauer Zervreila im Valsertal. Die Staumauer wurde 1958 in Betrieb genommen, ist 151 m hoch, verfügt über eine Kronenlänge von 504 m und fasst 100 Mio. m3. Nach 60 Jahren in Einsatz müssen verschiedene Anlagenteile saniert und erneuert werden. Es handelt sich dabei um den Grundablass sowie den Dotierauslass, beides sicherheitsrelevante Einrichtungen der Staumauer. Ebenfalls saniert wird die Druckleitung inklusive Absperrorgane. «Wir betreiben eine zustandsorientierte Instandhaltung unserer Anlagen», erklärt Clemens Hasler, Geschäftsleiter der KWZ, «und nun ist der Zeitpunkt gekommen, um die Anlagen in Zervreila zu sanieren.»
Um die eigentlichen Sanierungsarbeiten durchführen zu können, waren umfangreiche Vorarbeiten nötig. So wurde der Seespiegel seit Oktober 2017 kontinuierlich auf ein Minimalvolumen gesenkt. Der Seestand liegt jetzt im Februar auf 1736 m. ü. M. und der See wird als leer wahrgenommen. Dass beim Absenken des Sees grössere Mengen Sedimente mobilisiert werden könnten, war eine der grossen Herausforderungen in den Planungen gewesen. Wären Wasser und Sedimente nun einfach aus dem See abgelassen und in den Valser Rhein geleitet worden, hätte das schwerwiegende Folgen gehabt. «Der Fluss wäre auf 30 Kilometern völlig versandet worden, was einen biologischen Totalausfall verursacht hätte. Daher mussten wir andere Optionen erarbeiten», erklärt Clemens Hasler. Auch der Kanton Graubünden, der als Standortkanton das Vorhaben bewilligen musste, hätte ein solches Vorgehen keinesfalls genehmigt. Eine alternative Lösung war daher gefragt. Diese zu finden, war aufgrund der äusserst komplexen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Sanierung nicht einfach. «Jede Staumauer ist ein Unikat», sagt Clemens Hasler. Er spricht damit die sich von Bauwerk zu Bauwerk unterscheidenden Rahmenbedingungen an, und zwar topografische ebenso wie ökologische oder technologische. Um das Ausschwemmen dieser Sedimente in den Rhein zu verhindern, wurde der See über den Dotierauslass gesenkt. Wasser und Sedimente gelangten so in das Ausgleichsbecken, welches nun als Absatzbecken für die Sedimente dient. Später, wenn die Bedingungen günstig sind und genug Wasser vorhanden ist, werden die Sedimente schliesslich gespült. Im Rahmen der Arbeiten wird bis im Juni 2018 auch der Grundablass im Stausee Zervreila erneuert und mit neuen Funktionen ergänzt, sodass die gesetzlichen Vorgaben auch bei einem künftigen Spülen der Sedimente eingehalten werden.
Berufsfischer warfen ihre Netze aus
Auch die Situation der Fischbestände im Stausee war vor dem Projektstart eingehend analysiert worden. Die KWZ suchte gemeinsam mit dem kantonalen Amt für Jagd und Fischerei sowie Spezialisten für Umweltfragen nach Lösungen. Obwohl ein Teil der Sedimente in das Ausgleichsbecken abfliesst, enthält der See nach der Absenkung noch sehr viele Sedimente. Weil dies den Lebensraum der Fische stark beeinträchtigt, wurde der See daher in den vergangenen Jahren durch Berufsfischer mit Netzen befischt. Ausserdem waren die Fangvorschriften gelockert sowie der Fischbesatz eingestellt worden, sodass der Fischbestand bis zum Beginn der Arbeiten stark reduziert worden ist.
Neben ökologischen mussten vor der Sanierung auch logistische Fragestellungen beantwortet werden. Die Arbeiten werden aus Gründen der Sedimentmobilisierung im Winter durchgeführt (in der niederschlagsarmen Jahreszeit fliesst nur wenig Wasser in den abgesenkten Stausee nach). Weil die Baustelle aber auf 1860 m. ü. M. liegt, erforderte dies eine sorgfältige Planung und Vorbereitung. Neben einem Baukran, der im Oktober 2017 auf der Staumauer errichtet wurde, musste eine grosse Menge Material und Gerätschaften schon vorgängig zum Bauplatz gebracht werden. Die Zufahrt zu einer so hoch gelegenen Baustelle ist für Lastwagen und Transportfahrzeuge im Winter nicht ohne Weiteres möglich. An der Staumauer ist ausserdem ein Gerüst eingerichtet worden und auf dem abgesenkten See werden Pontons installiert.
Taucher und Saugbagger im Einsatz
Auf einem solchen Ponton steht ein 25 t schwerer Saugbagger, der Sedimente im Bereich des Grundablasses absaugt. Dies ermöglicht Tauchern die Montage eines röhrenförmigen Zapfens am Einlauf des Grundablasses, um diesen zu verschliessen. Erst wenn der Einlauf zum Grundablass derart verschlossen ist, können die Sanierungsarbeiten vorgenommen werden. Was sich hier so kompliziert liest, ist es auch. Aufgrund äusserer Einflüsse wie Schnee, Temperaturstürzen, Eisbildung auf dem See oder Lawinenrisiko kann es zur zeitweiligen Einstellung der Tauch- und Installationsarbeiten kommen. Auch an die Arbeitssicherheit stellt eine solche Baustelle extreme Anforderungen.
Die eigentliche Sanierung des Grundablasses findet nicht nur vor Ort, sondern auch im Werk statt. Die demontierbaren Bestandteile werden abtransportiert und im Werk erneuert und überarbeitet. Aber auch vor Ort finden Arbeiten statt, beispielsweise bauliche Ausbesserungen am Stollen und die Erneuerung des Korrosionsschutzes der Panzerstrecke. Sind die Bestandteile des Grundablasses komplett remontiert und die Anlage wieder in Betrieb, wird der Deckel über dem Einlauf durch Taucher wieder entfernt. Für die Sanierung des Grundablasses hat die KWZ rund vier Monate veranschlagt. Voraussichtlich ab Juni 2018 wird der See daher wieder aufgestaut. Schon im März 2019 wird er aber wieder auf 1750 m. ü. M. abgelassen, weil dann die Arbeiten am Dotierauslass durchgeführt werden. Bei plangemässem Ablauf werden die Arbeiten im Juni 2019 abgeschlossen sein. Die Anlagen werden dann in den Normalbetrieb übergehen.
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