Flexible Kleinwasserkraft in den Alpen
Das Projekt Realp II bei Andermatt
Obwohl die energiewirtschaftliche Situation heute Projekte zum Bau von Wasserkraftwerken eher erschwert, gibt es einige neue Projekte in den Alpen. Ein solches Kleinwasserkraftwerk, Realp II, wurde kürzlich in Betrieb genommen. Das Besondere: nebst einer konventionellen Pelton-Turbine wird eine Durchströmturbine eingesetzt.
Im Gebiet Geeren in Realp mündet die Wittenwasserenreuss, ein Gewässer der Korporation Ursern, in die Furka-Reuss, einem Kantonsgewässer. Die örtliche Korporation, eine über 600 Jahre alte Körperschaft, gebildet aus der Gesamtheit der Talbürgerinnen und Talbürger in Ursern, wollte dieses Wasser schon länger nutzen. Es gab diverse Nutzungsideen. Das Wasser hätte beispielsweise durch einen 2,5 km langen Stollen in den Göscheneralpstausee geleitet werden können. Schliesslich beschloss das Volk aber, das Wasser selber zu nutzen, unter anderem, um die lokale Grundwassersituation nicht negativ zu beeinflussen.
Nutzbares Wasser
Vor einem Jahrzehnt hat man mit der Planung der neuen Wasserkraftanlage begonnen und zahlreiche Varianten geprüft. Elf Optionen wurden dann für eine detaillierte Analyse gewählt und mit dem Landschaftsschutz, mit Pro Natura, WWF und weiteren Umweltschutzverbänden diskutiert. Im Sommer 2015 erfolgte in Realp dann der Spatenstich für das Projekt. Im von den beteiligten Parteien akzeptierten Kompromiss kam man so von den jährlich realisierbaren 30 GWh schliesslich auf eine Produktion von 10 GWh.
Da das Gewässer vorher noch nicht genutzt wurde, gilt hier das Wasserschutzgesetz. Mit den involvierten Interessengruppen konnte man sich darauf einigen, dass in den wasserreichen Monaten zwei Drittel des Wassers genutzt werden können. In den anderen Monaten ist die nutzbare Wassermenge dynamisch. Im Winter müssen stets 250 l/s im Bach fliessen, der Rest kann turbiniert werden.
Das neue Kraftwerk nutzt Wasser aus der Muttenreuss und der Wittenwasserenreuss. Das Wasser wird beim Zusammenfluss der Gewässer in einem Tiroler Wehr gefasst und gelangt anschliessend in den Kiesfang und dann durch den Feinrechen in den Sandfang. Der Feinrechen ist mit einer hydraulischen Rechenreinigungs-Vorrichtung ausgerüstet. Das Rechengut wird beim Kiesfang unmittelbar unter der Fassung zurück ins Gewässer geleitet. Zwischen Tiroler Wehr und Feinrechen wird zudem das Restwasser mit dem Dotierschütz geregelt. Nach dem Sandfang gelangt das Wasser durch das Kopfbecken in die Druckleitung.
Nach dem Tiroler Wehr sind sämtliche Bauwerke sowie die ersten 220 m der Druckleitung unterirdisch in einem begehbaren Stollensystem untergebracht. Die Druckleitung verläuft zuerst relativ flach in einem glasfaserverstärkten Kunststoffrohr und dann in einem Stahlrohr steil hinunter ins Maschinenhaus.
Unüblich ist die Wasserrückgabe, denn sie geschieht in entgegengesetzter Richtung zur Druckleitung. Der Grund dafür ist eine Auflage, die es erforderte, das Wasser in das ursprüngliche Gewässer zu leiten, bevor es ins Kantonsgewässer gelangt. So muss das Wasser um 180 ° im Maschinenhaus umgeleitet werden. Der Bau wäre ohne diese Umleitung preisgünstiger und einfacher gewesen, und das Gefälle hätte besser genutzt werden können. Aber es hätte eine weitere Konzession gebraucht, um das Wasser direkt in die Furka-Reuss leiten zu können.
Das Optimum erzielen
Um das Wasser möglichst optimal ausnutzen zu können, wird in Realp II eine Kombination aus zwei unterschiedlichen Turbinentechnologien eingesetzt: eine grössere sechsdüsige Pelton-Turbine, bei der die Düsen individuell zugeschaltet werden können, und eine Ossberger-Durchströmturbine mit walzenförmigem Laufrad. Beide Turbinen verfügen über fremderregte Synchrongeneratoren.
Konstruktionsbedingt hat die Durchströmturbine einen flacheren Wirkleistungsverlauf als die Peltonturbine und nutzt geringere Wassermengen somit besser, erreicht aber nicht den Spitzenwirkungsgrad der Peltonturbine. Wegen ihrer robusten Bauweise und der einfachen Bedienung findet sie auch in Entwicklungsländern häufig Anwendung.
Im Sommer, wenn genügend Wasser vorhanden ist, werden beide Turbinen gleichzeitig betrieben. Ein übergeordnetes Steuergerät (Joint Controller) analysiert den jeweiligen Wirkungsgrad der Turbinen und definiert, welche Turbine wie betrieben wird. Im Winter, wenn nur die Durchströmturbine in Betrieb ist, werden rund 250 kW produziert.
Der Einsatz zweier Maschinen hat den Vorteil, dass man die grosse Turbine im Winter für Revisionszwecke stilllegen und das Wasser weiterhin nutzen kann. Der Unterwasserkanal ist hier so ausgelegt, dass die Maschinen individuell betrieben werden können und der nicht benutzte Kanal stillgelegt werden kann. Zudem vermeidet man durch das Abschalten der Pelton-Turbine die Gefahr der Kavitation, der Abnützung des Turbinenlaufrads und der Düsen, die im Winter wegen der geringen Wassermenge grösser ist. Kavitation ist hingegen bei der Durchströmturbine kein Thema. Laub und andere Fremdkörper werden durch die Turbine hindurch- oder, nach einer halben Umdrehung, wieder herausgespült. Durch diesen «Selbstreinigungsmechanismus» und das Fehlen von Düsen ist die Turbine auf Verschmutzungen unempfindlich.
In der Realp-II-Anlage weist die Durchströmturbine eine Nennleistung von 600 kW auf. Sie ist horizontal installiert, wobei das Wasser die Turbine wie bei einem Wasserrad quer durchströmt. Es ist eine einfache Maschine mit Leitapparat, aber ohne Saugrohr, da mit der vorhandenen Fallhöhe von 126 m die Durchströmturbine als Freistrahlturbine arbeitet. Bei Fallhöhen bis 40 m wird die Durchströmturbine in der Regel mit einem Saugrohr betrieben, bei grösseren Fallhöhen als Freistrahlturbine. In die Schweiz hat die Firma Ossberger bisher bereits mehr als 400 Anlagen geliefert.
Die Wicklungen und Lager der Generatoren werden durch Wasser gekühlt, das im Unterwasserkanal mittels Wärmetauscher abgekühlt wird. Im Winter kann die Abwärme des Generators zum Beheizen der Zentrale genutzt werden.
Der Vorreiter
Realp II ergänzt nun das schon länger bestehende Wasserkraftwerk des Elektrizitätswerks Ursern in Realp. Die erste Wasserkraftanlage Realp, eine zweidüsige Pelton-Turbine mit 225 kW Nennleistung, wurde 1914 erbaut. Sie ist nicht abgelegen wie Realp II, sondern befindet sich direkt im Dorf. Das Wasser kommt von der anderen Talseite, vom Lochbach und weiteren korporationseigenen Wasserläufen im Lipfersteingebiet.
2007 wurde die Anlage komplett revidiert und man konnte die Leistung von 225 auf 900 kW steigern. Die Konzession dieses Kraftwerks ist für 200 l/s, das Gefälle beträgt 430 m, was rund 4,5 GWh pro Jahr ergibt.
Im Unterschied zu Realp II kann Realp I viel länger Volllast fahren, wobei im Winter nur rund 7 % Volllast erreicht wird. Die Wasserfassung liegt über 2000 m, was den Vorteil hat, dass keine Fische betroffen sind. Die Restwasserauflagen entfallen dadurch.
Höhere Kosten
Die bei Realp II geplanten Baukosten von 17,5 Mio. Fr wurden übertroffen, da ungünstige geologische Verhältnisse, nicht geplante Hangsicherungen, Entwässerungsmassnahmen sowie eine nicht vorhergesehene Felssicherung im Bereich der Wasserfassung dazukamen. Ein Nachtragskredit wurde erforderlich. Um möglichst optimal von der kostendeckenden Einspeisevergütung profitieren zu können, hat man das Kraftwerk Realp II Ende 2017 in Betrieb genommen.
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