Fachartikel Energienetze , Integration ins Netz , IT für EVU

Flexibilität: Warum, für wen und wie?

Flexibilität zwischen Netzebenen

05.12.2022

Der Ausbau von Photovoltaik, Elektro­mobilität und Wärme­pumpen ist zentral zur Erreichung der CO2-Ziele der Energie­strategie 2050+. Die meisten dieser Ressourcen werden in der Netzebene 7 installiert. Sie stellen den Netzbetrieb zwar vor gewisse Heraus­forde­rungen, können aber, sinnvoll genutzt, die Netz­stabilität erhöhen und einen Netzausbau verzögern.

Dieser Beitrag zeigt zunächst auf, warum die «Flexibilität» der Endverbraucher mit dezentralen Erzeugungsanlagen, DEA, benötigt wird. Anschliessend wird eine Methodik zur Koordinierung und Aggregation der DEA-Flexibilität an Transformatoren (NE 2, NE 4 oder NE 6) zwischen verschiedenen Netzebenen vorgestellt. Diese Methodik ermöglicht Übertragungsnetzbetreibern, Aggregatoren oder Verteil­netz­betreibern einen netzdienlichen Einsatz der Flexibilität. Ein Beispiel illustriert, wie ein grosser Teil des Flexibilitäts­potenzials mit einer einfachen regelbasierten Umsetzung genutzt werden kann. Abschlies­send werden die dringendsten Herausforderungen für die Nutzung der Flexibilitäts­ressourcen im Zusammenhang mit Messung, Kommunikation und Automa­tisierung dargelegt.

Auswirkungen eines hohen Anteils an DEA

Die Verteilnetze sind in der Schweiz meist für einen Gleichzeitig­keits­faktor von etwa 30% ausgelegt. Das bedeutet, dass in Summe nur 30% der Nennlast (Maximallast) aller Kunden eines Netzgebietes gleichzeitig bezogen werden. Daher schwankt zum Beispiel die Auslastung der Transformatoren der NE 6 oft zwischen 20% und 40%. Diese Annahme der Gleichzeitigkeit trifft bei einem hohen Anteil an Ladestationen, Photovoltaik und Wärmepumpen nicht mehr zu. Die Bereitschaft der Endverbraucher, mit DEA ihren Verbrauch bzw. ihre Erzeugung zeitweise in gewissen Grenzen zu ändern, wird als «Flexibilität» bezeichnet. Ein bekanntes Beispiel ist die Rundsteuerung von Elektroboilern der Endkunden durch Verteilnetz­betreiber.

Netzausbau und Flexibilität

Die aktuelle Regulierung motiviert Verteil­netz­betreiber dazu, potenzielle, durch DEA verursachte Engpässe vor allem durch Netzausbau zu lösen (z.B. durch Zu- oder Neubau die Kapazität von Transformatoren oder Kabeln zu erhöhen). Es ist aber zu erwarten, dass die DEA-Verbreitung schneller voranschreitet als der Netzausbau. Selbst wenn die Planungsprozesse für Anlagen­investitionen angepasst werden, können zum Beispiel bei Kabeln die notwendigen Arbeiten nicht immer rechtzeitig erfolgen. Zudem führt eine Überdimensionierung der Netzkapazität wegen selten auftretender, aber hoher Spitzen durch PV-Anlagen oder Ladestationen zu einer ineffizienten Nutzung der Infrastruktur. Sich ausschliesslich auf den Netzausbau zu beschränken, ist daher weder wirtschaftlich noch strategisch sinnvoll.

Daraus ergibt sich der Flexibilitäts­bedarf für Verteil­netz­betreiber, um die Zuverlässigkeit der Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Dafür müssen nicht zwingend neue Anlagen erstellt werden. Die DEA der Endkunden haben in Summe ein hohes Potenzial und müssen nur noch sinnvoll genutzt werden. Die Flexibilitätsdienste von DEA-Besitzern können von Verteil­netz­betreibern genutzt werden, um eine Investition (z.B. neue Transformatoren, Kabel) in die Zukunft zu verschieben. Zudem können die DEA-Flexibilitäten an Transformatoren gebündelt werden, um den Ausgleich von Angebot und Nachfrage in benachbarten Netzgebieten zu unterstützen, die ein unter­schiedliches Ausmass der DEA-Verbreitung aufweisen, oder um Dienstleistungen für höhere Netzebenen zu erbringen (z.B. System­dienst­leistungen).

Zeitliche und geografische Verteilung des Bedarfs

Um folgende Netzverletzungen zu vermeiden, benötigen Verteil­netz­betreiber Flexibilität:

  • thermische Überlastung des Transformators, der Freileitungen oder der Kabel eines Netzgebietes
  • Überspannung am Einspeisepunkt oder nahe gelegenen Netzknoten mit hoher Einspeisung
  • Unterspannung aufgrund hoher Gleich­zeitigkeits­faktoren der neuen Lasten.

 

Dabei haben die Netzverletzungen eine zeitliche und räumliche Komponente. Zum Beispiel könnte eine hohe Erzeugung an einem Sonntag im Sommer um 14:00 Uhr in einem Gebiet mit viel Photovoltaik auftreten, was zu Überlastungen oder Überspannungen führen würde.

Unterspannungen könnten hingegen in einem Wohngebiet an einem Winter-Wochentag um 19:00 Uhr abends auftreten, wenn die Wärmepumpen gleichzeitig mit den Ladestationen in Betrieb gehen. Die zeitliche und räumliche Ausprägung des Flexibilitätsbedarfs ist für den Verteil­netz­betreiber von grösster Bedeutung, um sinnvolle Flexibilitätsanbieter zu identifizieren.

Digitalisierung, Messung und Netzmodelle

Die digitale Erfassung und Modellierung der Verteilnetze und der zeitlichen Verteilung der Kompo­nenten­belastungen ist notwendig, um den Flexi­bilitätsbedarf und sinnvolle Flexibilitäts­anbieter zu identifizieren. Dies kann durch Sensitivitätsanalysen oder durch Lastfluss­analysen erreicht werden. Smart-Meter-Daten mit einer Auflösung von 15 Minuten, die bei Verteilkästen oder Haus­anschluss­kästen (HAK) aggregiert und anonymisiert werden, verbessern die Beobachtbarkeit des Netzes.

PV-Wechselrichter sind mit ICT-Schnittstellen ausgestattet, um auch Status­informa­tionen zu übertragen. Durch die verbesserte Beobachtbarkeit kann der Verteil­netz­betreiber den Flexibilitätsbedarf im täglichen Betrieb erkennen und bei Bedarf reagieren. Wenn der Zugang zu Smart-Grid-Daten nicht innerhalb des Tages (z.B. jede Stunde) möglich ist, kann auf Prognosen von Nachfrage und Erzeugung zurückgegriffen werden, um den künftigen Flexibilitätsbedarf zu bestimmen. Dies reduziert jedoch die Chancen für eine weitverbreitete Nutzung der DEA-Flexibilität.

Nutzen der DEA-Flexibilität durch Aggregation

Jede Umsetzung der Flexibilitätsnutzung erfordert eine Verpflichtung des DEA-Eigentümers, entweder durch einen Vertrag (z.B. monatlich, jährlich) oder durch einen tagesinternen Mechanismus. Bei Letzterem teilt der DEA-Eigentümer die Verfügbarkeit der Flexibilität in vorher festgelegten Zeitintervallen (z.B. x Stunden im Voraus) an den Verteil­netz­betreiber oder einen Aggregator mit. Dabei bezeichnet «DEA-Flexibilität», um wie viel ein DEA seine verbrauchte oder erzeugte Leistung um einen Sollwert herum zu einem bestimmten Zeitpunkt erhöhen oder verringern kann.

Wenn beispielsweise eine Batterie mit einem 3-kW-Wechselrichter und einer 10-kWh-Speicherkapazität bei 50% Ladestand zu einem bestimmten Zeitpunkt mit 2 kW lädt, kann sie die Leistung flexibel ändern. Einerseits kann die Ladeleistung um weitere 1 kW erhöht oder mit bis zu 3 kW entladen werden (eine Änderung von –5 kW, indem es die Ladung stoppt und die Entladung beginnt). Ähnlich verhält es sich, wenn eine PV-Anlage 10 kW erzeugt und sich verpflichtet, 10% Flexibilität anzubieten: Sie kann bis zu 1 kW als Flexibilität anbieten, indem die Einspeisung auf 9 kW reduziert wird. Die hier berücksichtigten Flexibilitäten umfassen:

  • Steigende Nachfrage (abnehmende Erzeugung): Einschalten von Wärmepumpen oder Ladestation für Elektromobilität, Starten oder Erhöhen des Ladens von Batterien, Abregeln von PV-Einspeisung.
  • Sinkende Nachfrage (zunehmende Erzeugung): Abschalten von Wärmepumpen, Reduktion der Leistung von Ladestationen für Elektromobilität, Entladen von Batterien.

 

Die verfügbaren DEA-Flexibilitäten in einem Netz werden am Transformator aggregiert. Dabei wird ermittelt, wie viel mehr Wirk- oder Blindleistung in einem bestimmten Betriebspunkt zwischen NE 5 und NE 7 unter Berücksich­tigung der Netzgrenzen fliessen kann, wobei Netzgrenzen berücksichtigt werden (Bild 1). Im Rahmen des vom BFE finanzierten Forschungs­projekts TDFlex [1] wurde ein optimierungs­basierter Ansatz entwickelt, um den potenziellen Beitrag jeder DEA zu einem zeitlich variablen «Flexibilitäts­bereich» zu ermitteln, zum Beispiel in 15-Minuten-Schritten. Flexibilitäten von Anlagen des Netzbetreibers wie regelbare Trans­forma­toren mit Stufenschaltung und Kompensations­anlagen werden in der Studie nicht berücksichtigt.

DEA-Eigentümer könnten Flexibilität anbieten, indem sie ein «Verfügbarkeitssignal» übermitteln, das spezifiziert, wann ihre DEA verfügbar sind. Der Einfachheit halber wird als Verfügbarkeitssignal eine binäre Zeitreihe vorgeschlagen (z.B. 1 = verfügbar zwischen 19:00 und 5:00 Uhr und 0 = nicht verfügbar sonst), das am DEA-Standort über ein Energiemanagementsystem für den nächsten Tag übermittelt wird. Das Verfügbarkeitssignal ist wie eine Ampel. Dabei kann auch eine Dauerbelastung der Anlagen verhindert werden, die zu einer Verkürzung der Lebensdauer führt.

Umsetzungsschritte und Verteilnetzbeispiel

Zur Demonstration des Rahmens wird als Modell das Niederspannungsnetz in einem realen Netz verwendet (bedient von zwei 1-MVA-Transforma­toren). Es wird ein Zukunftsszenario betrachtet, bei dem in Jahressumme die lokale PV-Erzeugung die lokale Nachfrage deckt, was zu einem erheblichen Produktionsüberschuss an Sommertagen führt. Ausserdem sind 70% der PV-Anlagen mit Batterien gekoppelt, 80% der Fahrzeuge elektrisch und 40% der Haushalte mit Wärmepumpe geheizt. Es werden folgende Flexibilitäten aggregiert: Die konven­tionelle Nachfrage von Verbrauchern kann in Wirk- und Blindleistung um 10% angepasst werden; Ladestationen sind bis 5:00 Uhr morgens flexibel; Wärmepumpen können den ganzen Tag zeitlich verschoben werden; PV-Anlagen erlauben eine Leistungsabregelung bis zu 10%; Wechselrichter für PV und Batterien können sowohl beim Laden als auch beim Entladen Blindleistung entnehmen bzw. einspeisen. Das an der ETH Zürich entwickelte Auslegungstool mit Zeitreihengenerator und dem Last­fluss­optimierer FlexOPF [2] wird verwendet, um die Flexibilität der DEA (PV, Batterien, Wärmepumpen und Lade­stationen) zu schätzen.

Bild 2 zeigt einen Wochentag im Sommer. Die Summe des Ladeverhaltens aller Batterien sowie der aggregierten PV-Erzeugung und -Nachfrage ist im ersten Schritt dargestellt. Es ist zu sehen, dass die Batterien im Netz­gebiet mit dem Laden beginnen, wenn es um etwa 9:00 Uhr einen PV-Überschuss gibt. Die Ladung wird fortgesetzt bis die Batterien voll sind. Sie beginnen mit dem Entladen, wenn es um etwa 17:30 Uhr keinen PV-Überschuss mehr gibt und decken damit den abendlichen Bedarf. Sobald der Sollwert jeder DEA ermittelt ist, werden im zweiten Schritt die maximal verfügbaren positiven und negativen Flexibilitäten am Transformator berechnet (blaue und rote Kurve). Der Beitrag von Batterien zur Flexibilität ist signifikant. Wenn die Verbreitung von Batterien geringer ist, verringert sich der Umfang der verfügbaren Flexibilität entsprechend. Schliesslich werden die Ergebnisse für den Aggre­gations­prozess im dritten Schritt verwendet. Die Ergebnisse zu den einzelnen Zeitpunkten werden mithilfe des Optimierers FlexOPF berechnet und die Ergebnisse zu ausgewählten Zeitpunkten dargestellt. Der Ursprung entspricht dem nominellen Betriebspunkt des Transformators zu jedem Zeitpunkt. Um 21:00 Uhr kann das Netz beispielsweise + 1,7 MW und – 0,75 MW durch Erhöhen und Senken der Nachfrage bereitstellen.

Verteilnetzbeispiel

Die aggregierte Nutzung von Flexibilität durch Verteil­netz­betreiber hat den direkten Vorteil, dass die Investitionsentscheidung für Anlagen verschoben werden können, da einzelne seltene Spitzen nicht durch einen Netz­ausbau behoben werden müssen. In Bild 3 wird eine möglichst einfache Umsetzung für das gleiche Beispielnetz gezeigt. Mit einer leicht angepassten regelbasierten Lade- und Entlade­steuerung kann ein netz­dien­liches Verhalten erreicht werden, ohne die Ziele des Eigen­verbrauchs signifikant zu gefährden. So kann beispielsweise der Neubau des Trans­formators aufgeschoben werden. Die annuali­sierten Kosten für die Erneuerung des Stromnetzes können mit den Opportunitätskosten des DEA-Eigentümers (z.B. durch geringeren Eigenverbrauch) verglichen werden und geben einen Anhaltspunkt für den Vergütungsanreiz.

Zusammenfassung

Zurzeit besteht für Verteil­netz­betreiber noch keine zwingende Notwendigkeit, DEA-Flexibilität als Alternative zum Netzausbau zu verwenden. Im nächsten Jahrzehnt kann jedoch die rasche Verbreitung neuer Anlagen für Erzeugung und Verbrauch auf den unteren Netzebenen, insbesondere auf NE 7, zu einem neuen Vorgehen bei der Infra­struktur­planung führen.

Die Nutzung der Flexibilitäten ist in vielen Bereichen bereits heute ohne die Einschränkung der Endkunden möglich. Die Regulierung muss den Zugang zu «intelligent» aggregierten und anonymisierten Smart-Meter-Daten durch die Netzbetreiber ermöglichen, damit der zeitliche und räumliche Flexibilitätsbedarf der Netzbetreiber zuverlässig ermittelt werden kann. Die ausgewählten DEA-Flexibilitäten sollten finanziell entschädigt werden, um das Engagement der DEA-Eigentümer zu erhöhen.

Referenzen

[1] C. Y. Evrenosoglu, J. Garrison, A. Fuchs, T. Demiray, TDFlex – TSO-DSO Flexibility: Towards integrated grid control and coordination in Switzerland, BFE, Final Report SI/501735, 2022.

[2] T. Demiray, FlexOPF: Ein Programm zur Analyse des optimalen AC-Leistungsflusses für elektrische Übertragungs- und Verteilungssysteme, 2014.

Link

www.fen.ethz.ch/de

Autor
Dr. Cansin Yaman Evrenosoglu

ist Experte für Strom­netz­simu­lationen an der Forschungs­stelle Energie­netze (FEN).

  • ETH Zürich, 8006 Zürich
Autor
Dr. Alexander Fuchs

ist Experte für Strom­netz­simu­lation an der Forschungs­stelle Energie­netze der ETH Zürich.

  • FEN (ETH Zürich), 8006 Zürich
Autor
Dr. Turhan Hilmi Demiray

ist leitender Experte und ­Forschungsdirektor an der Forschungsstelle Energienetze (FEN).

  • ETH Zürich, 8006 Zürich

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Was ist die Summe aus 8 und 7?