Fachartikel Fachkräfte

Experten für eine neue Welt

Der Wandel der Erfolgsprofile in der Energiebranche

29.05.2017

Um auch in Zukunft erfolgreich zu bleiben, müssen sich sowohl die Energieversorgungsunternehmen als auch die Menschen, die in der Energiebranche tätig sind, konstant verändern und anpassen. Es kündigt sich eine Zeit der lernhungrigen Wissensträger und Experten – Ingenieure, Techniker, Informatiker etc. – an.

Die Zukunft wird anders! 2.0. war gestern, 4.0. ist heute – sollte man bereits an 8.0. denken? Rasante technologische Innovation und Disruption, politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse ziehen Umwälzungen nach sich – auch in der Energiebranche, die lange Zeit als immun gegenüber externen Veränderungen galt. Vorhersagbar ist die Zukunft zwar nicht. Dennoch ist schon heute vieles bekannt, das die Branche morgen beeinflussen wird [1]:

  • Megatrends, die einen Einfluss auf den Energiesektor haben werden: Durchbrüche in der technologischen Entwicklung und Innovation, Klimaveränderung, Ressourcenknappheit, demografische und soziale Umwälzungen, Verschiebungen der globalen Machtverhältnisse in der Wirtschaft sowie Urbanisierung.
  • Risiken, welche auf die Energiebranche zukommen: regulatorische Unsicherheit, schwierige Investitionsbeschaffung, Stromausfallrisiko, Dezentralisierung der Märkte, Emissionen und Luftverschmutzung, Treibstoff-Verfügbarkeit/Versorgungsengpässe und Cyber-Attacken sowie der vor einigen Jahren noch unvorstellbare Verfall der Grosshandelspreise für Strom.
  • Man kann von der Annahme ausgehen, dass in der nächsten Dekade insbesondere die Konvergenz der Effekte von technologischer Neuerung, dezentraler Stromproduktion, neuen Wettbewerbsformen und verändertem Kundenverhalten den Energiemarkt transformieren werden.
  • Es bestehen Hinweise darauf, dass das Spannungsfeld zwischen der Einflussnahme der Regulatoren und der Kundennachfrage intensiviert wird.
  • Es wird erwartet, dass der Energiemarkt offener und dem Wettbewerb (auch ausserhalb des Energiesektors) stärker ausgesetzt sein wird.

Vier Attribute, um diese neue Welt zu beschreiben

Dem Auge des Betrachters eröffnet sich eine Welt, die mit vier Attributen beschrieben werden kann: Sie ist volatil, unsicher, komplex und ambivalent beziehungsweise voller Ambiguität – kurz V.U.K.A. (Tabelle unten).  Sich in dieser V.U.K.A.-Welt zurechtzufinden, erscheint auf den ersten Blick schwierig. Dennoch, obwohl sie einem unbekannten und gefährlichen Gewässer gleichen mag, birgt sie auch Faszination in sich.

A.G.I.L. hilft

Um erfolgreich auf den V.U.K.A-Wellen zu surfen, ist sowohl von den Unternehmen als auch von den Menschen, die in der Energiebranche tätig sind, die Fähigkeit gefragt, sich konstant zu verändern und anzupassen; das heisst, stets lernwillig und lernfähig zu bleiben. Die Zeit der lernhungrigen Wissensträger und Experten – Ingenieure, Techniker, Informatiker etc. – kündigt sich unmissverständlich an. Die Bedeutung einer starken Identität («Wer sind wir und wie sind wir? Was wollen wir und warum?») wie auch eines realistischen, ausgeprägten Selbstbewusstseins rückt angesichts der Turbulenzen ins Zentrum. Sie ist ein Garant für den Fortbestand, die Stabilität und Kraft. Vor diesem Hintergrund entsteht der Ruf nach agilen Organisations- und Führungsmodellen. Mit «A.G.I.L.» werden Funktionen einer Organisation bezeichnet, die insbesondere in Zeiten der abrupten Wechsel und Unbeständigkeit überlebenswichtig sind (Tabelle unten).[2] In der Praxis der Energieunternehmen müssen verschiedene strategische Schachzüge ausgeführt werden, welche sowohl Experten als auch Führungskräfte vor neue Anforderungen stellen und spezifische Erfolgsprofile erfordern.

Experten-Exzellenz 4.0 – die blaue Kraft

Die Kräfte bündeln und sichtbar machen! Um der Wissensinnovation Rechnung zu tragen und der «Volatilität» und «Komplexität» der kontextuellen Veränderungen wirksam zu begegnen, müssen Fachkräfte verstärkt und untereinander vernetzt in den Vordergrund rücken. Die Bereitschaft ist gefragt, die unternehmerische Bühne zu betreten und sich zu präsentieren (Visibilität), dabei geschmeidig zu kommunizieren und zu überzeugen. Die Sprachgewalt der Experten wird daran gemessen, wie gut es ihnen gelingt, sich den jeweiligen Kommunikationspartnern, die unter Umständen andersartig und andersdenkend sind, anzupassen und auf sie einzugehen. Eloquent und argumentationsstark, mit einem parkettsicheren Auftritt werden sie andere in ihren Bann ziehen. Dafür muss zum einen in die Arbeit an den entsprechenden Kompetenzen investiert werden. Vor allem müssen aber interne und externe Visibility-Plattformen für Experten (Social Media, Publikationen, Fachkolloquien und Think Tanks seien nur als Beispiele genannt) geschaffen und professionell betrieben werden.

Mehr Macht den Experten

Für eine erfolgreiche «Adaptation» und effektives «Goal Attainment» heisst es, Fachkräfte rigoros in die Leitung strategischer Geschicke beziehungsweise Unternehmensentscheide miteinzubeziehen. Dies bedeutet einerseits mehr und direktere Einflussnahme, anderseits aber auch höhere Auflagen an ihr Können, die Polyvalenz ihrer Interessen, ihre Lernfähigkeit und ihre Leadership-Qualitäten. Neugier – weit über die eigenen Fach- und Wissensgrenzen hinaus –, differenzierte Kenntnis unternehmerischer Zusammenhänge und strategisches Denken, insbesondere auch IT-Know-how werden sakrosankt. Bereitschaft, Selbstverantwortung und Verantwortung für andere beziehungsweise für den gemeinsamen Erfolg zu übernehmen, sowie Autonomie der Entscheidungsfindung auch bei Unsicherheit sind Qualitäten, die bis anhin vornehmlich von Führungskräften gefordert waren – die nun aber zum Kompetenzprofil der Fachkräfte gehören werden.

Die Rolle der Experten 4.0 wird sich entsprechend wandeln und ein neues Selbstverständnis sowie entsprechende Motivationstreiber mit sich bringen. In der Konsequenz muss nicht nur die Auswahl von Fachkräften, sondern auch die Konzeption der Mentoring- und Entwicklungsprogramme für Experten entsprechend angepasst werden. Nicht zuletzt heisst es, die herrschenden organisationalen Strukturen zu überdenken.

Raus aus der Einzelstube

Man wird auf Teamarbeit in selbstorganisierten Teams mit flachen Hierarchien sowie auf fachübergreifende interdiszi­plinäre Teams mit viel Eigenverantwortung setzen, als Antwort auf «Uncertainty» und «Komplexität» sowie um der «Integration» und «Latency» Rechnung zu tragen. Ein solches Teamwork bedarf ausgeprägter Beziehungskompetenz, die darauf gründet, in die Perspektive eines anderen zu gehen und sich in ein Gegenüber empathisch einzufühlen, aber bei Bedarf auch bewusst abzugrenzen.

Nicht minder wichtig wird hier die Fähigkeit sein, die gegebene Situations- und Teamdynamik zu verstehen und handzuhaben. Soziale Intelligenz, gepaart mit Wertebewusstsein und interkultureller Sensitivität werden es den Fachkräften erleichtern, die Heterogenität in Teams im Sinne von «Managing Multitude» zu bewältigen. Nicht zuletzt steigt die Bedeutung des Wissens um Konflikte und deren Handhabung. Die hier aufgeführten «Power Skills» sind nur bedingt aus Büchern zu eruieren. Um sie auszubauen und zu pflegen, sind Reflexionsfähigkeit, Introspektion und emotionale Geschmeidigkeit die Grundbausteine.

Im Rahmen Letzterer müssen Menschen lernen, Widersprüche auszuhalten (Ambiguitätstoleranz). Insbesondere hier kommen Führungskräfte in die Pflicht – sei es als Coaches, sei es als sozial- und beziehungskompetente Modelle (siehe unten). Zusätzlich ist das HR-Development aufgefordert, spezifische, handlungsorientierte Trainings und Ausbildungen unternehmensintern zu implementieren und Self-Leadership systematisch zu fördern.

Führung 4.0 – die rote Kraft

Die agile V.U.K.A.-Welt verlangt andere Chefs. Motivieren wird wichtiger als Kommandieren. Die Führungselite von morgen ist nicht zum Befehlen und Überwachen da, sondern um die Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes Handeln zu schaffen. Hand in Hand mit der Wandlung der Expertenrolle muss ein Selbstverständnis der Führung einhergehen, welches die Kompatibilität zwischen «Rot» (Führung) und «Blau» (Experte) wahrt. Nur so wird das Tandem seine Synergien ausschöpfen können.

Seitens der Führung wird die Absage an klassische Hierarchie und an autoritäres Verhalten unabdingbar. Ihre zentrale Aufgabe wird darauf fokussieren, in der Vermittlung von Sinnhaftigkeit und übergeordneten Zusammenhängen behilflich zu sein – im Dienste der Komplexitätsreduktion und zur Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umgang mit Unsicherheit. Klarer Blick und intellektuelle Beweglichkeit sowie strategisches und taktisches Geschick sind gefragt, um systemisch und vorausschauend zu denken und zu handeln.

Vor dem Hintergrund des veränderten Rollenbildes von Experten werden Führungskräfte verstärkt die Rolle von Moderatoren und Mediatoren sowie jene als Coach beziehungsweise Trainer, der entwicklungsorientiert eingestellt ist und über hohe Beratungskompetenz verfügt, sich zugleich beraten lässt und lernfähig bleibt, übernehmen. Führungskräfte werden sich in ihrer Vertrauensfähigkeit stark machen und das (subjektive) Risiko aushalten müssen, Expertenhinweisen beziehungsweise Wegen zu folgen, die sie mit dem eigenen Wissen nicht vollumfänglich kontrollieren können. Emotionale Kompetenz und soziale Souveränität der Führungskräfte werden mehr denn je gefragt sein – um als sozial- und beziehungskompetentes Modell/Vorbild glaubwürdig zu agieren. Für manch eine Führungskraft mag das hier gezeichnete Rollenbild fremd oder gar utopisch erscheinen – gemessen an der Vergangenheit. Die Empfehlung an diese Führungskräfte lautet, dieses Rollenbild nicht a priori zu verwerfen, sondern achtsam die Zeichen der Zeit um sich herum wahrzunehmen und für sich herauszufinden, wie das Selbstbild sowie das eigene Denkparadigma klugerweise zu verändern sind.

Strategisch investieren

Die agile V.U.K.A.-Welt nimmt Ener­gie­unternehmen in die Pflicht, durchdacht ins Fach- und Führungspersonal zu investieren. Der Impuls zum Paradigmen-Wechsel wird von Führungsgremien gesetzt, die sich mutig und mit agiler Kreativität der neuen Welt und gegen die alten Selbstverständlichkeiten stellen. Zudem braucht es Führungskräfte, die nicht vorschnell kapitulieren. Mit ihrer Kraft der Vision und Begeisterungsfähigkeit, aber auch dank ihrem langen Atem werden sie den Wind an den Segeln halten. Die herrschenden Erfolgsprofile und Kompetenzmodelle sind differenziert zu hinterfragen und sukzessiv umzudefinieren.

Doch wie begegnet man im engen Markt der Energiebranche den entstandenen Ansprüchen? Die Befürchtung könnte aufkommen, dass solch polyvalente Profile zum gegebenen Zeitpunkt eher rar gesät sind. So wäre es in Betracht zu ziehen, vornehmlich Menschen mit Potenzial zu identifizieren, die mit ihrer Lust auf Neues, ihrer ausgeprägten Lernfähigkeit und Flexibilität überzeugen. Zugleich wäre zu überlegen, was gerade solche Menschen anzieht und wie Energieunternehmen für sie attraktiv werden.

Im Sinne von Geben und Nehmen beziehungsweise Fördern und Fordern ist neben einer klugen und sorgfältigen Personalauswahl eine gezielte und intensive Einarbeitungs- sowie Entwicklungsarbeit gefragt: Mentoring-Systeme und Lerngefässe, aber auch Innovations- und Wissensvermittlungs-Plattformen sind dabei als Garant strategischer Vorteile zu betrachten. Qualität übertrumpft Quantität. Klar ist aber: Wenn Hebel an der richtigen Stelle angesetzt werden, entwickeln sie ungeahnte Kraft.

Referenzen

[1]   PWC-Studie «A different energy future. Where energy transformation is leading us.»
[2]   Ansätze der «agilen» Führung bauen auf der Action Theory von Talcott Parsons auf: Parsons, Talcott (1978). Action Theory and the Human Condition. New York: Free Press.

Autorin
Mona Spisak

ist wissenschaftliche Arbeits- und Organisa­tions­psychologin sowie Geschäftsführerin von P Assessments-Careers Zürich–Hamburg.

  • P Assessments Careers, 8002 Zürich

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