Interview Energiemarkt , Regulierung , VSE

«Es hat genug Strom und er ist gut verteilt»

Strommarktdesign: Das BFE kritisch befragt

13.12.2017

Das Uvek hat der längerfristigen Versorgungssicherheit in der Schweiz unlängst ein gutes Zeugnis ausgestellt. Entscheidend sei, dass die Marktkräfte spielten und die Schweiz in die europäischen Energiemärkte integriert sei. VSE-Direktor Michael Frank hat am VSE-Anlass «Top-Themen der Energiepolitik» vom 8. November 2017 in Zürich Pascal Previdoli, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Energie, kritisch dazu befragt.

Michael Frank: In der Vergangenheit wurde oft über konkrete Massnahmen ohne Verständigung über das Gesamtbild gerungen. Das BFE scheint gewillt, nun zuerst ein gemeinsames Verständnis für die Ziele zu finden. Wie ist das zu erreichen?

Pascal Previdoli: Es braucht einen Dialog über die weitere Entwicklung. Alle Akteure des Strommarktes müssen einbezogen werden: die Stromwirtschaft natürlich, aber auch die Gross- und Kleinkonsumenten, die Kantone, die Städte ...

Also ein gemeinsames Verständnis für die «Schweiz AG»?

Wir werden nicht schaffen, dass alle die genau gleichen Schlussfolgerungen ziehen. Wichtig sind die gemeinsamen Ziele und Wege. Letztlich geht es um einen Kompromiss, der Kosten und Nutzen gerecht verteilt.

Risiken abzudecken, kostet. Im Hochwasserschutz zum Beispiel muss man auch Geld in die Hand nehmen. Kann man das mit der Stromversorgung vergleichen?

Heute kostet die Versorgungssicherheit eigentlich nichts. Es hat genug Strom und er ist gut verteilt. Aber wer bekommt den Strom, wenn er knapp wird? Die Wirtschaft, die aber im Moment nicht so viel bezahlt, oder die Konsumenten, die heute mehr bezahlen? Müssen sich alle an der Versorgungssicherheit beteiligen? Solche Fragen müssen diskutiert werden.

Wie passt das Missing-Money-Problem in das Gesamtbild?

Grundsätzlich möchte ich zuerst festhalten, dass wir davon ausgehen, dass eigentlich genügend Geld im System ist. Man muss aber differenzieren. Der Zugang zu gebundenen Kunden macht heute den Unterschied. EVUs mit gebundenen Kunden haben sicher kein Missing-Money-Problem. Konzentriert man sich auf die Fälle, wo es tatsächlich ein Problem gibt, stellt sich die Kernfrage, ob die Folge von Missing Money ein Rückgang der Produktionskapazitäten ist oder ob es eher um sinkende Eigenkapitalrendite geht.

Welche Rolle spielt dabei der Marktpreis?

Der Marktpreis muss spielen können und die nötigen Anreize für Investitionen in Ersatz und Unterhalt generieren. Deshalb braucht es eine Optimierung des Energy-Only-Marktes. Insbesondere die Liquidität im Intraday-Handel muss verbessert werden, damit kurzfristige Produkte entstehen.

Umgekehrt führt aber mehr Markt – vollständige Marktöffnung – zu einem höheren Bedarf nach wirtschaftspolitischen Massnahmen. Ich sehe da einen gewissen Widerspruch...

Dies kann in der Tat eine Herausforderung sein. Die Erfahrung aus Europa zeigt aber, dass nicht alle Kunden auf einen Schlag in den freien Markt wechseln. Trotzdem muss geprüft werden, ob es eine Abfederung durch flankierende Massnahmen braucht.

Wir können nicht ausschliessen, dass es in Deutschland, Frankreich oder Italien grosse Verschiebungen bei der Produktion gibt. Was würde das bedeuten?

Wir können heute nicht alle Eventualitäten der nächsten 15 Jahre vorhersehen. Ein Kapazitäts-Shift passiert aber nicht von heute auf morgen, so dass man auch reagieren kann. Mit dem Monitoring der Energiestrategie 2050 verfolgen wir die Entwicklungen.

Rücken die Netze wieder stärker in den Vordergrund?

Die Netze sind immer zentral. Deshalb hat der Bundesrat parallel zur Energiestrategie 2050 auch die Strategie Stromnetze eingeleitet. Die Engpässe sind mit den heutigen Szenarien recht deutlich auszumachen. Noch nicht berücksichtigt sind aber Elemente wie Demand Side Management und dezentrale Speicher.

In diesem Zusammenhang drängt sich das Stichwort «Sektorkopplung» auf. Was bedeutet dieses Näherrücken von Strom, Gas, Wasser und Mobilität?

Die Sektorkopplung hat grosses Potenzial. Sie kann zu einer sinkenden Nachfrage nach fossiler Energie und dafür zu einer steigenden Stromnachfrage führen. Genau abschätzen lassen sich die Auswirkungen aber noch nicht. Eine weitere Herausforderung ist auch die Digitalisierung. Wir können nicht warten, bis alle Fragen beantwortet sind. Wir brauchen eine Gesetzgebung, die offener formuliert ist. Es braucht Rechts- und Investitionssicherheit, ohne dass Neues im Keim erstickt wird.

Eine wichtige Rolle bei den Überlegungen des BFE spielt unsere Einbettung in Europa. Wie gross sind die Gefahren des Imports?

Wir haben seit jeher Strom importiert. In Importen per se sehe ich deshalb keine Gefahr. Wir dürfen uns aber nicht einseitig auf sie verlassen. Es braucht nach wie vor ausreichende Kapazitäten beim Netz und bei der eigenen Produktion.

Stichwort Eigenversorgung?

Ein prozentualer Eigenversorgungsgrad ist mir zu abstrakt. Es nützt nichts, wenn wir im Januar 80 Prozent Wasserkraft haben, der Stausee aber im entscheidenden Moment dann doch leer ist.

Anders gefragt: Ist die heutige Produktion das absolute Minimum, das wir brauchen?

Wir haben in unseren Untersuchungen nicht das absolute Produktionsminimum zu identifizieren versucht. Wir haben aber auch krasse Fälle angeschaut, in welchen beispielsweise, neben einem bedeutenden Produktionsrückgang in Frankreich und Deutschland, die Schweizer Kernkraftwerke vom Netz sind und zudem noch vier Gigawatt Speicher- und ein Gigawatt Pumpspeicher-Kapazität wegfallen. In einem solchen Szenario hätten wir in der Tat eine angespannte Situation Ende Winter.

Ist das «Strategische Netz 2025» das absolute Minimum?

Die Netztopologie wird von Swissgrid regelmässig überprüft. Die Abschaltung von Mühleberg zum Beispiel wurde berücksichtigt. Auch bei weiteren Abschaltungen muss sichergestellt werden, dass das Netz genügend leistungsfähig ist.

Mit ihrer Drittstaatenregelung bei der Versorgungssicherheit zielt die EU eigentlich gegen Russland. Sie trifft damit aber auch die Schweiz. Ist die Einbettung in die Märkte nur Makulatur?

Im Gasbereich gibt es diese Regelung schon: Im Krisenfall haben die EU-Mitglieder die anderen EU-Mitglieder prioritär zu versorgen. Die Schweiz ginge leer aus. Wenn die EU das durchzieht, hat Italien ein Problem. Im letzten Winter hat die Schweiz sich sehr fair verhalten und Strom nach Frankreich geliefert, bis die Leitungen in Frankreich glühten. Daher bin ich überzeugt, dass unsere Nachbarländer sehr genau wissen, was es bedeutet, wenn man die Schweiz ausschliesst.

Können wir darauf zählen, dass sich unsere Nachbarn rational verhalten? Bekommt im Ernstfall nicht der Nationalismus die Überhand?

Die gegenseitige Hilfe funktioniert seit Generationen. Wenn die Schweiz abgehängt wird, hat das Folgen für das Netz in Europa. Wir haben mit unserer zentralen Lage und unseren vielen Leitungen einen Trumpf in der Hand.

Es gibt Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Ausländische Netze, ausländische Politik, Marktpreise …

Diese Dinge muss man richtig beurteilen und dann die richtigen Schlüsse ziehen. Es gibt viele Dinge, die man beeinflussen kann – aber vielleicht nicht so schnell. Ich denke zum Beispiel an den Energy-Only-Markt. Die Schweiz kann eigene Produkte entwerfen und damit vielleicht auch etwas ins Rollen bringen.

Die vollständige Marktöffnung soll neuerdings auch unabhängig von einem Stromabkommen diskutiert werden. Woher diese Wendung?

Wir sind überzeugt, dass sich die Marktöffnung auch ohne Stromabkommen positiv auf den Strommarkt auswirkt. Neue Player erhalten Zugang zum Markt, den Verbrauchern können neue Produkte angeboten werden und Demand Side Management wird erleichtert.

Die Idee einer strategischen Reserve wurde in den Raum gestellt. Besteht nicht ein Risiko, dass eine strategische Reserve negative Anreize in den Markt setzt?

Die Ausgestaltung und Wirkung einer strategischen Reserve müssen noch im Detail geprüft werden. Ungewollte negative Anreize müssen vermieden werden.

Autorin
Cornelia Abouri

ist Senior Expertin Public Affairs beim VSE.

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