Interview Märkte und Regulierung , Produktion , VSE

«Diese Aufgaben sind wichtig für unser Land»

Interview mit Michael Wider

05.05.2017

Der Freiburger stellt sich an der VSE-Generalversammlung vom 11. Mai 2017 in Visp als Nachfolger Kurt Rohrbachs als Präsident des VSE zur Wahl. Im Interview erklärt das Mitglied der Alpiq-Geschäftsleitung, was ihn an dieser herausfordernden Aufgabe reizt und welchen Weg der Verband unter seiner Führung einschlagen soll.

Bulletin: Warum stellen Sie sich für das Amt des Präsidenten des VSE zur Verfügung?

Michael Wider: Als Dachverband ist der VSE das Aushängeschild unserer Branche. Ich bin davon überzeugt, dass die Schweizer Elektrizitätsbranche einen starken Dachverband braucht, denn die Aufgaben, die unsere Branche wahrnimmt, sind wichtig für unser Land. Die Industrie ist aber voll im Umbruch, was eine gewisse Dynamik zur Folge hat. Das ist spannend und hat mich dazu bewogen, mich für das Amt zur Verfügung zu stellen.

Sie waren von 2010 bis 2013 bereits einmal Vorstandsmitglied und kennen die Abläufe und Mechanismen. Wird Ihnen diese Erfahrung im neuen Amt helfen?

Sicher. Wir sind in unserem Verband so aufgestellt, dass wir die ganze Wertschöpfungskette abdecken. Aber es ist klar, dass nicht immer alle die gleichen unternehmerischen Interessen verfolgen. Hier ist der VSE gefordert. Er muss für seine Mitglieder den grösstmöglichen gemeinsamen Nenner schaffen und diesen nach aussen vertreten. Neben dieser Wirkung nach aussen muss der VSE auch eine Wirkung nach innen, in die Branche hinein, haben. Während meiner Zeit im Vorstand spürte ich, wie wichtig diese Aufgaben sind. Bisher ist das meines Erachtens gut gelungen. Das Umfeld, in dem wir uns bewegen, verändert sich stark und rasant. Wir werden grosse Wechsel sowohl auf den Märkten als auch bei den Produkten erleben. Das Spannungsfeld zwischen Versorgungssicherheit, Service public und dem industriellen Markt wird sich verstärken.

Welche Rolle nimmt der VSE in der Branche ein?

Ein Verband soll helfen, wichtige Grundlagen zu schaffen für Themen, welche die Branche, die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Politik beschäftigen: der normative Rahmen der Industrie, aktuelle Fragen, Europa, Marktöffnung, Wirtschaftlichkeit der einheimischen Erzeugung, Digitalisierung, erneuerbare Energie, neue Technologien, Nachhaltigkeit. Dies sind nur einige Beispiele. Zu den wichtigsten Aufgaben des VSE zählen seit eh und je auch Ausbildung, Information und Weiterbildung. Als VSE müssen wir die Jungen für einen Beruf in dieser Branche motivieren und sie «nachziehen». Denn die Jungen von heute sind jene Kräfte, die wir morgen brauchen. Sie sind die Träger des neuen Gedankenguts, welches unsere Branche braucht, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Womit wir bei der zukünftigen Rolle des VSE wären.

Ich bin der Überzeugung, dass in der Elektrizitätsindustrie die «alte» und die «neue» Welt während einer Übergangszeit nebeneinander existieren werden. Wir dürfen den Zug in Richtung der neuen, digitalen, smarten, dezentral organisierten Welt nicht verpassen, werden aber weiterhin auf bestehende und bewährte Infrastrukturen, Prozesse und Modelle angewiesen sein. Das sind neue und spannende Ansätze. In diesem Spannungsfeld wird sich der VSE positionieren, was viel Arbeit und Engagement erfordert.

Wie kann die Branche diese Herausforderung meistern?

Sie muss dazu zwei Mentalitäten vereinen. Um ein Höchstspannungsnetz oder ein Kernkraftwerk zu betreiben, braucht es ein «Mindset», das sich fundamental von jenem unterscheidet, welches nötig ist, um Marketing zu betreiben und den Kunden die Vorteile moderner Produkte wie dezentrale Energie, Energieeffizienzlösungen, Datenbankzugang oder die Bedienung ihrer elektronischen Geräte zu Hause mit ferngesteuerten Impulsen zu verkaufen. Das ist eine ganz andere Welt als die physikalische Welt der zentralen Grossproduktion oder die der Netzbetreiber, ohne die es aber auch in Zukunft nicht gehen wird. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass unsere Branche sehr fortschrittlich und offen ist. Und deshalb wird sie die Zukunft und die anstehenden Herausforderungen meistern.

Wo sehen Sie Ihre Position als Präsident in diesem Gefüge?

Der Präsident muss innerhalb der Branche den Dialog mit Interessengruppen und mit den Mitgliedern führen. Nur so spürt er, wo der Schuh drückt, welche Themen anstehen, welche Interessen vorhanden sind, wie die Mitglieder den Verband sehen und wohin sie ihn steuern wollen. Nach aussen vertritt er diese Interessen gegenüber den Stakeholdern wie Politik, Hochschulen, Märkten und generell der Öffentlichkeit. Der Präsident soll meines Erachtens durchaus eine eigene Meinung haben. Primär stehen aber ganz klar die Verbandsinteressen und die Verbandsmitglieder im Fokus. Ich verstehe mich als Teamplayer, der den VSE mit seinen Vorstandskollegen und mit dem Management weiterbringen will.

In welche Richtung wollen Sie den VSE weiterbringen? Haben Sie eine «Vision VSE»?

Der VSE ist jener Verband, den man hören will, wenn es um Elektrizität, um Energie im weiteren Sinn geht. Man will die Stimme des VSE kennen. Aufgrund der Heterogenität unserer Branche ist es aber nicht immer einfach, eine Stimme zu haben, die auch entsprechendes Gewicht hat. Die grösste Gefahr sehe ich darin, dass wir nur noch kleinste gemeinsame Nenner zustande bringen, die zwar sämtliche Interessen berücksichtigen, die aber nicht mehr aussagekräftig sind. Das ist eine der grössten Herausforderungen. Ich bin zuversichtlich, dass wir diese meistern können, weil die gesamte Branche übergeordnete und gemeinsame Interessen hat, die wir zudem mit dem ganzen Land teilen, denn Elektrizität ist und bleibt ein Gut des ersten Bedürfnisses. Die Romands sagen sehr schön: «Un bien de première nécessité». Die Rolle des VSE als Stimme der Branche muss deshalb stark bleiben und noch gestärkt werden.

Welche Voraussetzungen braucht es dazu?

Der Übergang in eine neue, digitalisierte, dezentrale, erneuerbare Welt muss volkswirtschaftlich verantwortungsvoll geschehen. Ich habe Zweifel, ob man sich in gewissen Ländern in Europa dieser Verantwortung wirklich bewusst ist, angesichts der Geldmassen, welche bisweilen eingesetzt – und auch vernichtet – wurden, wie beispielsweise in Deutschland. In der Schweiz haben wir die Chance, daraus zu lernen und uns davon inspirieren lassen: die guten Ideen übernehmen und die schlechten vermeiden.

Woraus schöpfen Sie die Zuversicht, dass das in der Schweiz möglich ist, wenn es um uns herum nicht funktioniert?

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger haben im letzten Herbst den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie abgelehnt. Sie haben damit gezeigt, dass sie solche Schritte geordnet gehen wollen. Das ist verantwortungsbewusst und wirtschaftlich sinnvoll; vor allem auch mit Blick auf die Versorgungssicherheit. Aber auch wir Energieversorger müssen weit vorausplanen und uns überlegen, wie wir das volkswirtschaftlich verantwortungsvoll bewältigen. Obwohl wir in unserer Branche privatwirtschaftlich organisierte, börsenkotierte Firmen haben, nehmen wir trotzdem eine teilöffentliche Aufgabe wahr, die zum Teil durch Steuergelder ermöglicht wird. Wir erbringen also einen Service public. Mit der Energiestrategie 2050 werden wir – vorausgesetzt, die Stimmbürgerinnen und -bürger sagen am 21. Mai ja dazu – einen Schritt vorwärts machen.

Auch wenn die Stimmbürgerinnen und -bürger die Energiestrategie 2050 annehmen, steht der Branche noch viel Arbeit bevor.

Ja, es gibt in der Umsetzung immer noch sehr viel zu tun, aber die Schweiz ist gut gerüstet für die Herausforderungen der «neuen» Welt. Die Umsetzung soll möglichst geordnet, geplant und überlegt angegangen werden. Aber die Welt steht nicht still. Ich glaube, dass die Änderungen sehr schnell auf uns zukommen, umso mehr als die Konkurrenz auch – und vor allem – von ausserhalb der eigentlichen Branche entstehen wird. Eine allfällige Umsetzung der Energiestrategie 2050 wird deshalb auch zu einer Tempofrage werden.

Die Energiestrategie 2050 will die erneuerbaren Energien fördern und von fossilen Energieträgern wegkommen. Schaut man die globale Situation an, könnte man fast ein wenig die Hoffnung verlieren, dass das in absehbarer Zeit wirklich realistisch ist.

Es wird nicht einfach. Der globale Energieverbrauch wird heute immer noch zu über 80 % aus fossilen Energieträgern gedeckt. Schaut man sich nur Europa an, sieht es auch nicht viel besser aus. Europa verfolgte zwei sehr noble Ziele: Wir wollten das Klima schützen, und wir wollten den Markt dort spielen lassen, wo es sinnvoll ist. Heute stellen wir fest, dass wir diese Ziele – die ich notabene bedingungslos unterstütze – verfehlt haben. Deutschland beispielsweise hat 2016 nicht weniger CO2 ausgestossen als im Jahr davor. Und das, obwohl das Land hohen finanziellen Aufwand betreibt, um eine saubere und nachhaltige Stromproduktion zu realisieren. Die Nachfrage ist zwar in den europäischen Ländern frei, ihren Lieferanten zu wählen, die Erzeugung – also das Angebot – ist aber subventioniert, geschützt und unterstützt. Ein Markt kann sich so nicht herausbilden. Solche Entwicklungen machen mir Sorge. Sie führen zu volkswirtschaftlichen Verzerrungen.

Haben Sie weitere Beispiele?

Energie und Strom sind für jedes Land von strategischer Bedeutung. Tiefgehaltene CO2 Preise, tiefe Preise der fossilen Energieträger oder massive Subventionen sind nicht marktgetrieben, sondern folgen politischen Entscheidungen. Trotzdem ist der sich daraus ergebende europäische Grosshandelspreis, der eben kein Marktpreis ist, der Referenzpreis für den gesamten – wohlgemerkt CO2-freien – Schweizer Produktionspark. Ohne gebundene Kunden, also mit einer vollen Marktöffnung, würde dieser nur Verluste schreiben. Wir müssen für solche Themenkomplexe Lösungen erarbeiten.

Das ist vor allem ein Auftrag an die Politik und die nationalen Branchenverbände wie den VSE.

Mit der Energiestrategie 2050 hat die Politik die Richtung vorgegeben. Neben der Politik ist das aber auch ein Thema für die Branche, die Wirtschaft und die Wissenschaft. Und hier eröffnen sich dem VSE weitere Möglichkeiten, wie er die Bedürfnisse der Branche einbringen kann.

Mit den Energiewelten hat der VSE bereits Vorarbeiten für eine solche Annäherung geleistet.

Ja, mit diesem Denkmodell bewegt sich etwas. Die Energiewelten sind ein sehr spannender Ansatz, den der VSE unbedingt weiterverfolgen und entwickeln muss. In diesem Denkmodell gelingt es dem VSE sehr gut, komplexe Zusammenhänge einem Laienpublikum zugänglich zu machen, ohne diese zu verfälschen. Gerade das Thema Strom ist für viele Menschen nach wie vor ein Mysterium – und die Entwicklung hin zu einer dezentralen Produktion legt da noch eine zusätzliche Ebene drauf. Umso wichtiger ist, dass der VSE diese Zusammenhänge anschaulich und verständlich erklären kann.

Worauf freuen Sie sich bei Ihrer neuen Aufgabe besonders?

Aktuell durchlebt unsere Branche die seit langem spannendste Zeit. Ich freue mich, mit dem kompetenten Team des VSE, mit den Vorstandskollegen und den Verbandsmitgliedern die anstehenden Herausforderungen anzunehmen und hoffe, damit die Zukunft der Stromindustrie mitgestalten zu können.

Autor
Ralph Möll

ist Kom­mu­ni­kations­spezia­list beim VSE.

Michael Wider (geb. 1961) verfügt über einen Master in Law und B.A. und ist Absolvent des Stanford Executive Programs. Er ist seit 30 Jahren in der Energiebranche tätig. Stationen in seiner beruflichen Karriere waren unter anderem: langjähriges Geschäftsleitungsmitglied der Entreprises Électriques Fribourgeoises (EEF), COO EOS Holding, Head Energie EOS Holding und Head Energie Switzerland Alpiq. Michael Wider ist Mitglied der Geschäftsleitung von Alpiq und seit 2013 Head Generation. Von 2010 bis 2013 vertrat er im VSE-Vorstand die Gruppierung Swisselectric.

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